Nachdem Wilhelm Schmidts mit seinem Universitätsorchester und seinem Universitätschor schon bezüglich der Besetzungen in den vergangenen Jahren in Dimensionen vorgestoßen ist, die sich – es sei denn, man wolle sich eines Tages an Mahlers „Symphonie der Tausend“ wagen – kaum noch überbieten lassen, scheint er sich jetzt vor allem für den Originalitätsgrad der als Semesterschlusskonzert denkbaren Programme zu interessieren.
Die für dieses Semesterende getroffene Wahl ist in der Tat sehr originell, vereint sie doch unter einem Thema, nämlich Christian Andersens Märchen von der Seejungfrau, zwei Werke sehr unterschiedlicher Entstehungszeit und Besetzung, wobei die stilistischen Unterschiede allerdings nicht so groß sind. John Høybyes „The Little Mermaid“ ist nämlich, obwohl erst 2005 entstanden, kaum zeitgenössisch-neutönerisch und bietet deshalb keinen gravierenden Kontrast zu der Fantasie „Die Seejungfrau“ von Alexander Zemlinsky, einer „Fantasie für großes Orchester“ aus den Jahren 1902/03.
John Høybyes Kantate für Erzählerin, Sopransolo, Chor und Streichorchester erzählt in zwölf Episoden das Märchen von der aquatischen Jungfrau, die sich bei einer Erkundungstour durch die Menschenwelt in einen Prinzen verliebt, den sie zuvor bei einem Seesturm gerettet hatte. Sie will ihn nicht nur heiraten, sondern erhofft sich durch diese Verbindung auch das, was den Meeresbewohnern versagt ist: eine unsterbliche Seele. Die nämlich, so hatte sie von ihrer Großmutter erfahren, könnten nur Menschen haben.
Mit aufsteigenden Wasserblasen, vom Chor stimmlich treffend imitiert, hebt das Werk an, um sich in der Folge in einen Dialog zwischen der Musik und dem gesprochenen Text zu verwandeln. Fast könnte man denken, es handle sich um die Umkehrung der Gattung Rezitativ. Denn das Gesprochene wird regelmäßig durch zunächst kurze, später ausführlichere musikalische Passagen des Orchesters kommentiert.
Schon die Nummer vier, ein Dialog zwischen der Meerjungfrau und ihrer Großmutter, wird mit ihren Gospelanklängen zu einem Kabinettstück des Chores. In der Folge ist diese überaus angenehme und beseelte Musik von sanften Reibeklängen, von pentatonischen Elementen und von Akkorden geprägt, die mit Quarten oder großen Sekunden angereichert sind. Auch Blues-Klänge finden ihren Platz. Der Chor fällt immer wieder mit außermusikalischen Mitteln ein und darf zum Beispiel auch mal dem Gesang applaudieren. Letzteren gestaltet Theresa Dauer mit berückendem Timbre und glockenklarer Stimme. Kein Märchen ohne Hexe: in der Nummer sieben taucht sie auf und zeitigt viel Jazz-Drive. Am Ende scheint sich die Musik in Luft aufzulösen, grad so wie die Jungfrau sich ihrer Bestimmung gemäß eigentlich in Schaum hätte auflösen müssen, doch es folgt noch der Epilog des Chores beginnend mit dem rhythmisch vertrackten „Lift up“, der bravourös gelingt.
Der Schlussakkord gerät zu einer Meisterleistung, denn er beginnt mit einem perfekt angestimmten Cluster, der sich allmählich zu einem hell leuchtenden Dur-Akkord „reinigt“. Per aspera ad astra – die Wassergeister finden zur Konsonanz. Wilhelm Schmidts muss man um diesen vorzüglich präparierten Chor beneiden. Oder den Chor um einen solchen Leiter? Ganz wesentlich für den Spannungsverlauf dieser ersten Hälfte des Abends war der erzählend gestaltende Vortrag von Meike Hess. Wie plastisch – da war eine Profi am Werk!
Nach der Pause dann große Symphonik – und das mit einer Besetzung, die in der Nach-Wagner-Zeit durch den Mahler-Virus zur Gigantonomie neigte. Neben Schönberg und Strauss war auch Alexander Zemlinsky davon infiziert, allein sechs Hörner bietet er in seiner rein instrumentalen Version von Andersens „Seejungfrau“ auf. Es ist eine dreisätzige Komposition, die mit großem symphonischen Anspruch zu dramatischem Geschehen aufwallt.
Natürlich kann sie als absolute Musik trotz ihrer eindeutigen programmatischen Unterfütterung keinen inhaltlich stringenten Kommentar zum gedachten Geschehen bieten, obwohl sie in den Satzüberschriften etwas „rauschend“ (Teil 2) und „mit schmerzvollem Ausdruck“ (Schlussteil) postuliert. In der Tat ist der dritte Satz am vielgestaltigsten, wo es nach den in der Tiefe des Meeres grummelnden Violoncelli und Kontrabässen zu einem leuchtenden Finale kommt.
Man durfte an diesem Abend einmal mehr darüber staunen, dass Universitätsmusikdirektor Wilhelm Schmidts ein solch großes und niveauvolles Ensemble zusammenstellen konnte, aus dem die Primgeigerin Eva Hennevogel ebenso herausragte wie die Bläsergruppen, die viele heikle, weil sehr ausgesetzte Stellen zu bewältigen hatten. Fazit: ein wahrlich origineller Abend, dem überdies eine nachmittägliche Vorstellung der „Little Mermaid“ für die Kleineren vorausging. Die Bamberger Universitätsmusik hat wieder einmal ein Ausrufezeichen gesetzt.