Die Hegelwoche stand 2024 ganz im Zeichen der Schönheit. „Wie viel Schönheit braucht der Mensch?“, fragte sie. Die Antworten lieferten Vorträge an drei Abenden zwischen Dienstag, 4. Juni, und Donnerstag, 6. Juni. Eine erste Annäherung an eine Antwort wagte Eva-Maria Bauch, Geschäftsführerin der Mediengruppe Oberfranken, in ihrem Grußwort: „Viel. Der Mensch braucht Schönheit wie die Luft zum Atmen.“ Das zeigten etwa die Psychologie aber – ganz simpel – auch das eigene Leben. Sie selbst war gespannt darauf, welche philosophischen Antworten es wohl im Laufe der drei Abende geben würde.
„Schönheit“ – ein schwer fassbarer Begriff
Antworten darauf zu finden, ist eine herausfordernde Aufgabe, wie bereits die einführenden Worte von Prof. Dr. Christian Illies, zeigten. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie II der Universität Bamberg und Organisator der Hegelwoche. Die vermeintlich einfache Frage: „Was ist das Schöne?“, die er ans Publikum richtete und damit auf eine Definition des Begriffs abzielte, rief angestrengte Gesichter hervor. „Es gibt kaum einen Begriff, der so schwer zu fassen ist, wie das Schöne“, löste Illies auf. „Deshalb beschäftigt er die Philosophie auch schon so lange.“ Grund genug, dass das Schöne auch bei der Hegelwoche im Zentrum stand. „Wir wollen das ‚Viel’, das Eva-Maria Bauch in ihren Worten genannt hat, bei der Hegelwoche ausfüllen“, sagte Illies. Jedes Jahr im Juni laden Bamberger Philosophen hochrangige Gäste aus Wissenschaft, Politik und Kultur zu Vorträgen und Diskussionen ein. Die Hegelwoche ist ein Forum der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen und findet in Kooperation mit der Mediengruppe Oberfranken und der Stadt Bamberg statt.
Schönheit als Kontrast zu allem Hässlichen in der Welt
Prof. Dr. Birgit Recki, Inhaberin der Professur für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg, stellte in ihrem Vortrag exemplarische Ansätze der philosophischen Ästhetik vor, die das Schöne in seiner Bedeutung für ein humanes Selbstverständnis in Anspruch nehmen. Große Namen wie Theodor W. Adorno, Friedrich Schiller oder Ernst Cassirer fielen an diesem Abend. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand jedoch Hans-Georg Gadamer, der 1974 mit seinem Essay „Die Aktualität des Schönen“ einen Gegenpol zum damals allgegenwärtigen Abgesang der schönen Künste bildete. Er war selbst bereits Gast bei einer vergangenen Hegelwoche und stellt in seinem Essay Schönheit als ein essentielles Element der menschlichen Erfahrung dar. Gadamer nutzt drei Begriffe für das Verständnis von Kunsterfahrung – Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Sie seien als anthropologische Kategorien zu verstehen, wie Recki in ihrem Vortrag feststellte. Sie betonen insbesondere die Freiheit von Zweckbindung der Schönheit, ihren gemeinschaftsstiftenden Charakter und ihr Durchbrechen des Alltags, das erfüllte Zeit für den Menschen schafft.
Doch was bieten diese Erkenntnisse für eine Antwort auf die zentrale Frage der diesjährigen Hegelwoche? Besonders die Kategorien Fest und Spiel seien für uns Menschen reizvoll, weil sie uns aus unserem Alltag holen und durch ihre Besonderheit einen Kontrast dazu bieten. Der Alltag des Menschen ist in Anbetracht der aktuellen Weltlage geprägt von der „atembenehmenden, bestürzenden, entgeisternden, immer noch und immer noch und immer noch steigerungsfähigen Zunahme an Widrigkeiten“, meinte Recki. Sie nannte etwa Extremwetterkatastrophen, die Ausbreitung neuer Krankheitserreger, das Erstarken rechtsextremistischer Gruppe, Terror, Krieg und Völkermord. In diesem Kontext ist für Birgit Recki die Antwort auf die Frage „Wie viel Schönheit braucht der Mensch?“: „soviel wie nur irgend möglich!“ Denn uns drohe keine Gefahr einer katastrophalen Schönheitseskalation – vielmehr ertrügen Menschen das unendliche Pensum an Hässlichkeit, weil es im Gegenzug die Schönheit gebe, die dem Menschen eine Art Utopie aufzeigt, in der noch mehr Schönes möglich sein könnte.
Luxus schafft fruchtbaren anthropologischen Moment, in dem sich der Mensch seiner Existenz gewahr wird
Gibt es ein Substitut für die Schönheit? Am zweiten Abend der Bamberger Hegelwoche beschäftigte sich Prof. Dr. Lambert Wiesing, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, mit einem Phänomen, das, wie die Schönheit, allein durch ästhetische Erfahrungen des Menschen entsteht: Luxus. Weder Schönheit noch Luxus sind messbar. Im Gegensatz zur bloßen Verschwendung von Ressourcen, die keine spezifische Wertschätzung erfahren muss, sieht Wiesing im Luxus eine tiefere Bedeutung: Er ermöglicht es dem Menschen, sich über die alltägliche Zweckmäßigkeit hinwegzusetzen und eine ästhetische Erfahrung zu machen, die ihn seiner eigenen Existenz bewusst werden lässt. In Anlehnung an Friedrich Schiller argumentierte Wiesing, dass Luxus eine spielerische Komponente enthalte, die den Menschen in einen Zustand versetzt, in dem er sowohl seine Vernunft als auch seine Sinnlichkeit erfährt. Dieser „Spielzustand“ ist nach Schiller ein Ausnahmezustand, in dem sich der Mensch seiner selbst als vollständiges Wesen bewusst wird.
Wiesing betonte, dass Luxus nicht allein durch äußeren Aufwand definiert wird, sondern durch die innere Einstellung und das subjektive Erleben. Er schloss mit der These, dass Luxus als eine Form des „Dadaismus des Besitzens verstanden“ werden kann – ein bewusster, verschwenderischer Akt, der den Menschen dazu bringt, darüber zu reflektieren, was für einen Menschen angemessen ist, und sich seiner Menschlichkeit bewusst zu werden. Luxus und Schönheit, so Wiesing, sind beides Mittel, um sich aus der Alltagszweckmäßigkeit zu befreien und fruchtbare Momente des Menschseins zu erleben. Luxus ist ein Zweck ohne Zweckmäßigkeit; Und Schönheit ist eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck.
Die Verbindung von Kunstschönem und Naturschönem
Was in den ersten beiden Tagen der Hegelwoche theoretisch ausgelegt wurde, fand in Prof. Dr. Ryosuke Ohashis Vortrag „Das Naturschöne als das Kunstschöne“ seinen Höhepunkt in zahlreichen Beispielen und Bildern. Ohashi ist japanischer Gegenwartsphilosoph und Direktor des Japanisch-Deutschen Kulturinstituts in Kyoto. Er stellte in seinem Vortrag die japanische Kunstform des „Kire-tsuzuki“ (dt. Schnitt-Kontinuum) vor. Diese Kunstform, die vor allem, aber nicht nur, Anwendung in der Dichtung findet, und das damit verbundene ästhetische Konzept spielen eine bedeutende Rolle bei der Trennung und gleichzeitig bei der Verbindung des Kunstschönen und des Naturschönen. Diese Trennung und Verbindung spiegeln sich in verschiedenen Aspekten der japanischen Kunst und Kultur wider:
Ohashi stellte etwa die Kunst des Blumensteckens vor. Dabei werden Pflanzen und Blumen aus der Natur entnommen und durch den bewussten Schnitt und die kunstvolle Anordnung in eine neue, ästhetisch gestaltete Form gebracht. Dieser Akt des Schneidens trennt die Pflanze von ihrem natürlichen Umfeld. Die Arrangements streben aber danach, die natürliche Schönheit der Pflanzen hervorzuheben und gleichzeitig eine neue, harmonische Komposition zu schaffen, die die Essenz der Natur in einer kunstvollen Darstellung einfängt. „Das Schnitt-Kontinuum ist eine Struktur, in der einander Entgegengesetztes sich jeweils bis ins Innere des Anderen durchdringt und sich beide zur gleichen Zeit vollkommen voneinander abheben“, sagte Ohashi. „Die Gegensätzlichkeit vom Naturschönen und Kunstschönen wird hier ungültig gemacht. Kunstfertigkeit und Naturhaftigkeit dringen ineinander.“ Ohashi beendete seinen Vortrag mit einem imaginierten Dialog mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel – dem Namensgeber der Hegelwoche – und kommt zu dem Schluss, dass Hegel auf die Frage „Wie viel Schönheit braucht der Mensch?“ antworten würde: „Der Mensch braucht unendlich viel Schönheit.“ Damit meinte er aber eine konkrete Unendlichkeit, die auch in einzelnen Dingen anwesend ist.
Aus Empfinden von Schönheit entsteht Bewusstsein
Die Quintessenz der drei Abende: Schönheit ist für den Menschen unheimlich wichtig. Wie wichtig, darauf ging auch Psychologin und Kulturphilosophin Dr. Stefanie Voigt in ihrer Erwiderung auf Ohashis Vortrag ein und stellte eine allgemeine Theorie des menschlichen Schönheitsempfindens auf, mit der sie sich bereits in ihrer Dissertation an der Universität Bamberg beschäftigte. Sie sieht das Empfinden von Schönheit metaphorisch als den kognitiven Treibstoff der menschlichen Seele. Wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage sei, Dinge als schön zu empfinden, dann werde er krank. Voigt stellte ein Modell der Seele auf, in dem alle menschlichen Gefühle – von Langeweile bis totaler Begeisterung – enthalten sind, die in drei Intensitätsabstufungen von Schönheitsempfinden eingeteilt werden können. „Man kann Bewusstsein beschreiben wie eine Art von Informationsverarbeitung, mit der wir Wahrnehmungen durch Schönheitsempfinden emotional sortieren und das dann als Erkenntnisse abspeichern“, erläuterte Voigt. So entstehe aus dem Empfinden von Schönheit Bewusstsein. Und je nachdem, wie gut das funktioniere, desto mehr oder weniger kognitiven Treibsoff habe der Mensch intus.
Bezogen auf den Alltag stellte Voigt fest, dass das Nachdenken über Schönheit kaum Platz einnimmt. Im Gegenzug steige die Anzahl psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft immer mehr an. Schönheitsempfinden ist auf der einen Seite so zentral, meint Voigt. Auf der anderen Seite werde es aber nicht ernst genommen. Deshalb ist ihre Antwort auf die Frage „Wie viel Schönheit braucht der Mensch?“: „Wir bräuchten so viel Nachdenken über Schönheit, dass es jeder Beschreibung spottet“. Die 34. Bamberger Hegelwoche bot dazu Gelegenheit.