Wege aus der Vertrauenskrise

Was Theologie für unsere Gesellschaft leistet | aus uni.kat 01/2024

Thomas Weißer, Stefan Huber und Konstantin Lindner mit dem reisenden Regiestuhl auf dem Campus der Universität Bamberg.
  • Campus
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  • 25.06.2024
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  • Tanja Eisenach
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  • Lesedauer: 10 Minuten

Die Unzufriedenheit mit der Ampelkoalition steigt, die Zustimmung zur Demokratie sinkt. Das Institut für Katholische Theologie lädt dazu ein, über den Vertrauensverlust unserer Staatsform zu diskutieren und Handlungsperspektiven zu entwickeln. Grundlage dafür ist Hartmut Rosas Buch Demokratie braucht Religion, das im Mittelpunkt einer einjährigen Veranstaltungsreihe steht. Sie macht zugleich sichtbar, welche Bedeutung Theologie für die heutige Gesellschaft hat. Dieser Artikel ist in der Ausgabe 01/2024 des Campus-Magazins uni.kat erschienen. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe findet aktuell und noch bis Dezember 2024 die Filmreihe Religion und Politik konstenfrei im Lichtspielkino statt. Der nächste Film läuft am Mittwoch, 10. Juli 2024 um 18 Uhr. Darüber hinaus kommt Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Weltkirchenrates und ehemaliger bayerischer Landesbischof, als Kanzelgast zum UniGottesdienst am Mittwoch, 26. Juni, 19 Uhr. Der Gottesdienst steht unter dem Titel Religion – Kraftquelle der Demokratie? und fügt sich ebenfalls in die Veranstaltungsreihe ein.

Deutschland diskutiert: über das Erstarken der AfD, steigenden Antisemitismus in der Gesellschaft oder wachsende Bedrohung durch Linksextremismus. Wie groß die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger ist, zeigt eine aktuelle Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung (2023): Nur 49 Prozent der Befragten sind laut der Studie Demokratievertrauen in Krisenzeitenmit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland sehr oder ziemlich zufrieden. Nach der subjektiven Demokratieentwicklung gefragt, antworteten rund 51 Prozent der Befragten, dass sich der Zustand der Demokratie in den letzten Jahren verschlechtert habe. Nur zehn Prozent sehen eine Verbesserung. Unsere Regierungsform, über die Winston Churchill einmal gesagt haben soll, sie sei eine furchtbar schlechte, aber er kenne keine bessere, gerät unter Rechtfertigungsdruck.

Hintergründe, Zusammenhänge und Lösungsperspektiven stellt der Soziologe und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Rosa in seinem Buch Demokratie braucht Religion dar. Zwei Fragen beschäftigen ihn dabei: Warum erscheinen westliche Demokratien derzeit so erschöpft zu sein und wenig Strahlkraft zu besitzen? Und: Welches Potential hat Religiöses in dieser Krisensituation?

Erfolgreiche Teilnahme beim Wettbewerb Eine Uni – ein Buch

Über dieses Buch und seine beiden zentralen Fragen mit Universität und Öffentlichkeit ins Gespräch zu kommen, ist das Ziel einer einjährigen Veranstaltungsreihe unter Federführung des Lehrstuhls für Theologische Ethik, die im Wintersemester 2023/24 gestartet ist. „Wir wollen über Rosas Buch nachdenken, diskutieren und kreativ wie kritisch mit seinen Thesen umgehen“, sagt Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Thomas Weißer. Gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Stefan Huber hat er die Idee und das Konzept zu dieser Veranstaltungsreihe entwickelt und erfolgreich beim Wettbewerb Eine Uni – ein Buch des Stifterverbands und der Klaus Tschira Stiftung eingereicht. Nach dem letztjährigen Erfolg mit Rebooting AI Building Artificial Intelligence We Can Trust von Gary Marcus stehen der Universität Bamberg nun erneut 10.000 Euro für die Umsetzung von buchbezogenen Aktionen und Projekten zur Verfügung.

Hartmut Rosas Überlegungen mit der Öffentlichkeit zu teilen, ist Thomas Weißer eine Herzensangelegenheit. „Wenn wir das Menschsein von einem christlichen Gott her denken, braucht es eine starke Demokratie“, sagt er. „Toleranz, Geschlechtergerechtigkeit, Meinungsfreiheit, ein friedliches Miteinander – in der Umsetzung all dieser Werte können kirchliche Institutionen noch einiges von demokratischen Systemen lernen.“

Kirchenaustrittszahlen als Zeichen des Vertrauensverlusts

Und wie das Verhalten vieler gläubiger Menschen deutlich macht, sollten sie das auch. Denn nicht nur die Demokratie, auch die christlichen Kirchen stecken in einer Vertrauenskrise. Das zeigt zum Beispiel die aktuelle Kirchenstatistik der Deutschen Bischofskonferenz. 522.821 Menschen haben demnach im Jahr 2022 die katholische Kirche verlassen. Allein in Bayern haben 2,5 Prozent der Katholiken ihren Austritt erklärt. Im Erzbistum Bamberg wurde mit rund 15.700 Personen die bisherige Höchstzahl an Austritten aus dem Vorjahr nochmals um 53 Prozent überschritten.

Der Bamberger Diözesanadministrator – und künftige Bamberger Erzbischof – Weihbischof Herwig Gössl nennt als Grund: „Viele Austritte sind ein Protest gegen Missstände und Fehlverhalten oder gehen auf persönliche Erlebnisse und Enttäuschungen mit der Kirche oder ihrem Personal zurück.“ Zugleich betont er, dass nicht jede ausgetretene Person ihren Glauben verloren habe. Doch die 2023 veröffentlichten Ergebnisse der repräsentativ erhobenen 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland zeigen: Die Religiosität geht deutlich zurück oder sucht sich Wege abseits der Kirchen.

Theologie, Religion, Kirche: ein schwieriges Verhältnis

Kein leichtes Umfeld für eine Wissenschaft, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung oftmals mit Religion und Kirche gleichgesetzt wird. Zu Unrecht, sagt Thomas Weißer: „Religion und Kirche sind für uns Bezugsgegenstände, die wir analysieren und reflektieren. Theologie als Wissenschaft ist keine Ausdrucksform des Glaubens oder der kirchlichen Lehre, sie denkt über beides nach.“

Die andersartige öffentliche Wahrnehmung bringt die Theologie jedoch in ein Abhängigkeitsverhältnis, das auf verschiedenen Ebenen Folgen hat. Eine davon betrifft ihre Attraktivität für Studieninteressierte. „Viele übertragen ihre Vorbehalte gegenüber der Kirche auf die Theologie und kommen deshalb gar nicht auf die Idee, das Fach zu studieren“, sagt Prof. Dr. Konstantin Lindner, Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts. Gemeinsam mit seinem Team ist er speziell für die Lehrkräftebildung am Institut zuständig. Die Religionslehramtsstudierenden machen mit circa 80 Prozent den Großteil der Studierenden des Fachs Katholische Theologie aus. „Umgekehrt entscheiden sich viele kirchlich engagierte junge Menschen aus genau diesen Identifikationsgründen für ein Studium der Katholischen Theologie und sind dann nicht selten über die wissenschaftliche Herangehensweise an Glaubensinhalte erstaunt.“

Maßnahmenkatalog zur Steigerung der Sichtbarkeit

Eine zweite Folge des Abhängigkeitsverhältnisses betrifft die Rolle der Theologie als Impulsgeberin für die Gesellschaft. Die Denkanstöße, die sie der Gesellschaft geben kann und will, werden weniger gehört. „Am Beispiel der Medienpräsenz lässt sich diese Entwicklung gut nachvollziehen“, erklärt Thomas Weißer. „Die Expertise von Theologinnen und Theologen ist bei der Diskussion um aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen immer weniger gefragt. Stattdessen rücken glaubenspraktische Themen, kirchliche Aktionen und Projekte oder die kirchliche Haltung zur Welt in den Mittelpunkt der Berichterstattung.“

Was die Theologie tun kann, um ihr Wesen klarer zu konturieren und ihre Bedeutung für die Gesellschaft sichtbarer zu machen, ist daher eine Frage, die das Institut schon länger umtreibt. Mittlerweile ist ein breiter Maßnahmenkatalog entstanden. So gibt es mit Update Theologie eine Fortbildungsreihe für Religionslehrkräfte und Beschäftigte in kirchlichen Kontexten, für Oberstufenschüler*innen Studientage oder für die Öffentlichkeit mit dem Theologischen Forum eine Vortrags- und Diskussionsreihe. Im Mittelpunkt stehen jeweils aktuelle gesellschaftlich relevante Themen wie Theologie und Krieg, Antisemitismus oder die Bedeutung von Wahrheit im postfaktischen Zeitalter. Inspiriert durch die Ideen seiner Studierenden setzt sich das Institut intensiv mit Nachhaltigkeit auseinander und hält das Thema in Forschung, Lehre und Transfer präsent.

Veranstaltungsreihe Demokratie braucht Religion soll Brücken bauen

Vor diesem Hintergrund knüpft die Veranstaltungsreihe zu Hartmut Rosas Buch Demokratie braucht Religion an Bewährtes an und geht zugleich einen Schritt weiter. Erstmals hat das Institut einen fakultätsübergreifenden einjährigen Diskurs zu einem gesellschaftlichen Brennpunktthema initiiert, der alle universitären Statusgruppen und die Öffentlichkeit adressieren und mitei-nander ins Gespräch bringen soll.

Thomas Weißer und Stefan Huber verfolgen mit ihrer Veranstaltungsreihe die Idee einer Graswurzelbewegung und verstehen sich dabei weniger als Organisatoren, denn vielmehr als Koordinatoren und Impulsgeber. „Rosas Thesen sind sehr anschlussfähig und schlagen eine Brücke zu zahlreichen Disziplinen“, sagt Stefan Huber. „Deshalb ist es uns wichtig, möglichst viele Fächer mit ins Boot zu holen und zum Mitmachen anzuregen.“ Rund 20 Dozierende aus Soziologie, Orientalistik, (Sozial-)Pädagogik oder Politikwissenschaft sind ihrem Aufruf gefolgt und beteiligen sich mit eigenen Projekten und Lehrveranstaltungen.

Vom Preacher Slam zum Kleinkunstabend: geplante Veranstaltungen

Der Diskurs mit externen Zielgruppen startete am 25. November 2023 mit einer Kinder-Uni-Vorlesung zum Thema Wofür brauchen wir Religionen? Zahlreiche weitere Formate sind geplant, um Universität, Stadt, Zivilgesellschaft, religiöse Gemeinschaften, Schulen und kulturelle Einrichtungen in Austausch zu bringen. Höhepunkt im Wintersemester war ein interdisziplinäres Symposium in Bamberg am 25. und 26. Januar 2024, bei dem Hartmut Rosa mit Wissenschaft und Öffentlichkeit über sein Buch diskutierte.

Einige Meilensteine stehen auch für das Sommersemester bereits fest. So wird das Institut Bürgerinnen und Bürger ab Mai 2024 über ein Speed-Talk-Dating zu Hartmut Rosas Thesen ins Gespräch bringen. In einem Preacher Slam können sich alle Interessierten mit Pfarrerinnen und Pfarrern um die spannendsten rhythmischen Reime duellieren. Im Lichtspielkino gibt es eine Filmreihe über Religion und Politik, weiterhin sind unter anderem ein Kleinkunstabend und eine Schreibwerkstatt geplant, in der Interessierte in einem Blog ihre Gedanken zum Thema veröffentlichen können.

Veranstaltungsreihe zeigt Bedeutung der Theologie für die heutige Gesellschaft

„Bei der Konzeption der Veranstaltungsreihe haben wir bewusst darauf geachtet, möglichst viele interaktive Dialogformate einzubinden“, erklärt Stefan Huber. „Es geht uns um ein authentisches Miteinander, in dem Gegenstimmen einen Wert besitzen.“ Damit greifen die beiden Initiatoren das Thema von Hartmut Rosas Buch auch organisatorisch auf. In dieser Kombination von Inhalt und Form, so die Idee, kann das entstehen, was Rosa selbst als Resonanz definiert: Die Menschen bekommen Raum, um sich vom Thema und ihrem Gegenüber erreichen zu lassen und mit dem Anderen in Beziehung zu gehen. Für den Soziologen ist das die Basis, auf der Demokratie gedeihen kann, und der Klebstoff, der unsere Gesellschaft zusammenhält.

Damit offenbart der Charakter der Veranstaltungsreihe zugleich, warum es sie gibt: In ihr präsentiert sich die Theologie als eine Wissenschaft, die durch ihre inhaltliche Ausrichtung unsere Gesellschaft als Ganzes in den Blick nimmt. Die es als ihre Aufgabe begreift, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. Die den Anspruch hat, sich dazu zu positionieren – und mit dieser Position in die Gesellschaft zu wirken.

Demokratie braucht Religion von Hartmut Rosa

„Demokratie ist das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft“, schreibt Hartmut Rosa in seinem Buch Demokratie braucht Religion (54). Sie „funktioniert nur, wenn jede und jeder eine Stimme hat, die hörbar gemacht wird.“ (53) Das allein reicht allerdings nicht. Sie braucht auch Ohren und „dieses hörende Herz, das die anderen hören und ihnen antworten will.“ (53)

Doch unserer Gesellschaft, gefangen in einer immer länger werdenden To-do-Liste, getrieben von der Angst vor existenziellen Umwelt- und Wirtschaftskrisen und zugleich ermüdet vom Wachstumszwang, fehlt die Geduld für diesen Prozess. Es gibt „keine Debatte mehr darüber, wie wir leben wollen, wie wir unsere jeweilige Lebensform einrichten, sondern die anderen sollen’s Maul halten; wir betrachten die andere als Feinde, die wir zum Verstummen bringen wollen!“ (43f)

Hier, so Hartmut Rosa, kommt die Religion ins Spiel. „Meine […] These lautet, dass es insbesondere die Kirchen sind, die über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann.“ (55f) Dieses Beziehungsverhältnis, Rosa nennt das Resonanz, ist ihm zufolge die Basis für eine lebendige und funktionierende Demokratie und der Kern dessen, was Demokratie von Religion lernen kann.

In Resonanz, in Beziehung gehen bedeutet für ihn, die Bereitschaft zu haben, sein Gegenüber offen und ernsthaft wahrzunehmen, sich von dem, was es ausdrückt, erreichen zu lassen und darauf zu reagieren. „Da, wo Resonanz zustande kommt, […] komme ich in eine andere Stimmung und auf andere Gedanken.“ (62) Transformation, etwas Neues, kann so für das Individuum oder für die Gesellschaft entstehen.

Resonanz herzustellen ist mehr als eine reine Handlungsoption. Es ist eine Haltung zur Welt, wie sie in verschiedenen Religionen praktiziert wird. „Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“ (74f)

Rosa, Hartmut, Demokratie braucht Religion: Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis, München 2023.

Veranstaltungen zum Thema Demokratie braucht Religion

  • ab März: monatliche Filmreihe in den Bamberger Kinos Lichtspiel und Odeon zum Thema Religion und Politik
  • Mai bis September: Speed-Talk-Dating
  • 26. Juni: Unigottesdienst mit dem ehemaligen bayerischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm
  • 16. Oktober: Semestereröffnungsgottesdienst

Weitere Informationen unter www.uni-bamberg.de/theoethik/1u1b

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Seite 164130, aktualisiert 25.06.2024