Netzgänger: jung und kompetent im Internet

Digitale Souveränität durch den Einsatz von Mitschülerinnen und Mitschülern

  • Forschung
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  • 28.06.2021
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  • Jörg Wolstein
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  • Lesedauer: 11 Minuten

Das Präventionsprojekt Netzgänger fördert Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien. Seit mehr als zehn Jahren unterstützen Jugendliche ihre jüngeren Mitschülerinnen und Mitschüler in ganz Bayern dabei, eine produktive und kritische Nutzung des Internets zu erlernen. Zwischenzeitlich erreichte das Projekt jährlich etwa 4000 Schülerinnen und Schüler. Wie kam es dazu?

Der amerikanische Arzt und Computerfreak Ivan K. Goldberg hatte in den 1980er-Jahren einen Cyberclub for Shrinks gegründet, was man heute vielleicht mit Psychiaterblog übersetzen könnte. Dort erlaubte er sich 1995 den Scherz, eine psychische Erkrankung zu posten, von der er sicher war, dass es sie nicht gab, nämlich die Internetsucht. Er definierte mit einem Augenzwinkern als Kriterien, dass die Betroffenen ihr soziales Umfeld vernachlässigen, vom Internet träumen und unwillkürliche Tippb-wegungen zeigen. Zu seiner großen Überraschung erhielt er zahlreiche Zuschriften von Menschen, die ihm berichteten, dass sie die Kriterien für die fiktive Erkrankung erfüllen und Hilfe suchen. Inzwischen gibt es immer mehr Hinweise, dass es tatsächlich ein solches Krankheitsbild gibt, das heute Internetgebrauchsstörung genannt wird. Es ähnelt in vielerlei Hinsicht den Abhängigkeitserkrankungen, wie wir sie zum Beispiel beim Alkohol oder Nikotin kennen, und tritt schon im Kindes- und Jugendalter auf.

Vor diesem Hintergrund hat die Bamberger Professur für Pathopsychologie Ende der 2000er-Jahre begonnen, sich über mögliche Präventionsmaßnahmen Gedanken zu machen. Dafür kooperierte sie mit der damaligen Medienpädagogischinformationstechnischen Beratung (MIB) für Ober- und Unterfranken, Studiendirektor Roman Eberth vom Clavius-Gymnasium Bamberg und Studiendirektor Roland Baumann vom Friedrich-Rückert-Gymnasium Ebern. 2009 entwickelten sie zusammen mit Studierenden der Universität Bamberg und Schülerinnen und Schülern der beiden Schulen zunächst Ideen zur Internetsuchtprävention. Schon schnell stellte sich allerdings heraus, dass dieser Blickwinkel zu eng war. Obwohl die meisten Kinder und Jugendlichen hervorragende Kenntnisse im technischen Umgang mit den neuen Medien hatten, waren sie zum Beispiel erstaunlich unsicher im Umgang mit Konfl ikten im virtuellen Raum oder naiv bei der Zurschaustellung persönlicher Informationen in den sozialen Medien.

Aus einem Suchtpräventionsprojekt wurde damit ein Projekt zur Verbesserung der Medienkompetenz und Prävention des problematischen PC- und Internetgebrauchs im weiteren Sinne, das die Beteiligten Netzgänger nannten. Die Finanzierung erfolgte zunächst durch die Ständige Kommission für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs (FNK) der Universität Bamberg, später durch die Bürgerstiftung Nürnberg und von 2011 bis 2015 durch die Bayerische Staatsregierung. Inzwischen wird das Projekt in seiner Version 3.0 durch die Techniker Krankenkasse unterstützt und entweder in Eigeninitiative der Schulen oder durch Condrobs Inside@School, einen überkonfessionellen Träger der Jugendsozialarbeit, weitergeführt.

Einsatz von Mitschülerinnen und -schülern

Zur Vermittlung der Präventionsinhalte haben die Forschenden sich für die Einbeziehung von Peers entschieden (Peer-Education). Peers sind Multipli-katoren, die ähnliche Merkmale haben wie die Mit-glieder der Adressatengruppe. Die Gemeinsamkeit muss nicht unbedingt das Alter, sondern kann – wie in diesem Fall – auch die Zugehörigkeit zur gleichen Schule sein. Im Netzgänger-Projekt übernehmen Schülerinnen und Schüler der Oberstufe die Rolle der Peers und die Zielgruppe sind Mädchen und Jungen aus der 5. und 6. Klasse. Aufgabe der Peers ist es, der Adressatengruppe die Präventions-maßnahmen näherzubringen und in praktischen Übungen und Erzählungen aus der eigenen Erfahrung zu veranschaulichen. Ein Vorteil des Einsatzes von Peers ist die höhere Glaubwürdigkeit und die bessere Vorbildfunktion. Eine Schülerin meinte einmal treffend, dass der Projektleiter aus der Steinzeit komme, während die Peers wüssten, wovon sie sprechen. Die Peers werden sorgfältig in umfassenden Trainings auf ihren Einsatz vorbereitet. An ihrer Heimatschule führen sie dann mit den Schülerinnen und Schülern aus der Unterstufe das Projekt über drei Tage weitgehend selbstständig durch. In kleinen Gruppen setzen sie sich aktiv mit Schwer-punktthemen auseinander und geben den jungen Schülerinnen und Schülern breiten Raum, sich über die eigenen Erfahrungen auszutauschen und das Gelernte auszuprobieren. Eine Übersicht über die Projektstruktur fi ndet sich in der Abbil-dung auf der folgenden Seite. Das Projekt wurde zunächst an Gymnasien erprobt, wird inzwischen aber auch in Real- und Mittelschulen eingesetzt.

Inhalte des Netzgänger-Projektes

Netzgänger umfasst die vier Module Virtuelle Spielewelten, Cybermobbing, Soziale Netzwerke und Smart im Netz. Alle vier Module sind in einem Handbuch beschrieben und werden regelmäßig an neue Entwicklungen angepasst. Das Modul Virtuelle Spielewelten zielt – wie der Name schon sagt – insbesondere auf das Internet-Gaming ab. Es soll vor allem den Jungen ermöglichen, riskantes Spielverhalten bei sich und ihren Freunden zu identifizieren und entsprechend zu ändern. Beim Thema Cybermobbing sollen einerseits die Fähigkeit zum Erkennen von Mobbingsituationen verbessert und andererseits Handlungskompetenzen entwickelt werden, mit derartigen Situationen individuell und in der Gruppe umgehen zu können. Im Modul Soziale Netzwerke, das besonders die Schülerinnen anspricht, geht es um angemessenes Handeln im virtuellen Raum, zum Beispiel zur Wahrung der Privatsphäre, um die eigene digitale Identität und um das Thema virtueller Freundschaften. Unter Smart im Netz werden rechtliche Aspekte von Urheberrecht und Datenschutz angesprochen.

Ergebnis: kompetenteres Verhalten im Internet

Jedes Jahr nahmen in der Förderphase mehr als 40 Schulen mit insgesamt etwa 700 Peers an dem Projekt teil. Die Peers wurden wie beschrieben in Bamberg vorbereitet, um dann etwa 4000 junge Schülerinnen und Schüler an ihrer Heimatschule zu erreichen. Das Programm wurde durch Julia Finmans in einer Längsschnittstudie mit einer Wartekontrollgruppe evaluiert. Die Schülerinnen und Schüler der Zielgruppe waren nach der Projektteilnahme deutlich zuversichtlicher, sich in schwierigen Situationen in Zusammenhang mit PC und Internet kompetent verhalten zu können. In der Wartegruppe kam es ohne Intervention zu keinen Ver-änderungen in diesem Bereich. Mädchen erzielten zu allen Messzeitpunkten signifikant höhere Werte als Jungen, jedoch profitierten beide gleichermaßen von der Teilnahme. Auch die Peers profitierten von ihrer Beteiligung am Projekt: Sowohl durch die Schulung als auch durch die Durchführung der Tutorien kam es zu einem deutlichen Zuwachs an Selbstwirksamkeit. Bei einer Nachuntersuchung von insgesamt 277 Schülerinnen und Schülern durchschnittlich 2,75 Jahre nach Teilnahme zeigte sich, dass im Vergleich zur Kontrollgruppe die ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer weniger Zeit mit Computerspielen verbrachten und seltener ein Gefühl des Kontrollverlusts über das Spielverhalten erlebten.

Digitale Souveränität

Im Laufe der letzten Jahre hat das Konzept des kompetenten Mediengebrauchs immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die Kultusministerkonferenz definierte 2016 als eine von sechs Kompetenzen in der Digitalen Welt Schützen und sicher agieren. Auch im Rahmenmodell der EU-Kommission wird als eine von fünf digitalen Kompetenzen Sicherheit und Wohlbefinden definiert. Ein übergeordnetes Konzept ist das der Digitalen Souveränität, wie sie zum Beispiel im Gutachten des Aktionsrats Bildung vorgeschlagen wird. Ziel ist es, ein Bild des Menschen zu entwickeln, der „Digitalisierung produktiv aufnimmt und mitgestaltet, aber auch kritisch verarbeitet“. Wie die Autorinnen und Autoren des Gutachtens ist auch Jörg Wolstein überzeugt, dass Digitalisierung langfristig nur erfolgreich sein kann, wenn auch offen über den Umgang mit und die Vermeidung von Risiken gesprochen und dies für präventive Maßnahmen wie das Netzgänger-Projekt berücksichtigt wird.

Literaturempfehlung:

  • Julia Finmans (2018): Peer-Prävention im Bereich des riskanten und pathologischen Gebrauchs von PC und Internet. Bamberg: opus, DOI: 10.20378/irbo-51333.
  • Christina Bischof-Kastner, Emmanuel Kuntsche, Jörg Wolstein (2014): Identifying Problematic Internet Users: Development and Validation of the Internet Motive Que-stionnaire for Adolescents (IMQ-A). Journal of Medical Internet Research 2014, 16(10): e230, DOI: 10.2196/jmir.3398.
  • Aktionsrat Bildung (2018): Digitale Souveränität und Bildung. Gutachten.

 

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Seite 147772, aktualisiert 26.10.2021