Schön, schöner, gesund.

Die Aufgabe einer humanen Ästhetik

Sitzgelegenheit mit Blick auf das offene Meer
  • Forschung
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  • 25.08.2022
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  • Christian Illies, Michael Heinrich
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  • Lesedauer: 7 Minuten

Architektur ist in Gestalt und ästhetischer Erscheinungsweise von großer Bedeutung für die Gesundheit. Denn ästhetische Qualitäten senken messbar und langfristig Stresslevel und befördern Agilität und Resilienz. Diese komplexen Zusammenhänge besser zu erfassen und das Wissen für die Bauwelt und Design fruchtbar zu machen, ist das Anliegen des geplanten Instituts Mensch & Ästhetik der Universität Bamberg gemeinsam mit der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg.

Wenn der Chirurg eine Gallenblase entfernt, braucht es Zeit, bis man wieder auf den Beinen ist. Aber Patienten haben Glück im Unglück, wenn sie im Krankenhaus ein Zimmer mit Aussicht ins
Grüne bekommen, statt auf eine Backsteinwand des nächsten Krankenhausflügels starren zu müssen. Denn ein schöner Ausblick verkürzt die postoperative Aufenthaltszeit signifikant, senkt den Schmerzmittelverbrauch und lässt sogar die Pflegekräfte freundlicher erscheinen. Das zeigte eine Auswertung von Patientenakten eines Krankenhauses in Pennsylvania schon in den 1980ern.
Nicht nur Ausblicke, auch der Blick nach drinnen ist wichtig. Die ästhetische Wirkung von Wohnräumen hat bereits 1911 der Volkswirt Carl J. Fuchs, Nachfolger von Max Weber in Freiburg, gesehen: „Kehrt der Arbeiter müde von der Arbeit nach Hause und findet hier keinerlei Behaglichkeit ... so sucht er das Wirtshaus auf.“ Fuchs hatte gut reden, denn er wuchs in Nürnberg im wunderschönen Pellerhaus auf. Vielleicht war ihm deswegen die Bedeutung ästhetischer Qualitäten bewusst. In einem Text zur Wohlfahrtspflege von 1914 beklagt er entsprechend die Not der Landbevölkerung und fordert neben wirtschaftlichen Reformen „den Bau von gesundheitlich, sittlich und künstlerisch einwandfreien neuen Wohnungen.“ So altfränkisch der Begriff Wohlfahrtspflege anmutet, so sehr stärken konzeptionelle und empirische Studien diese Einschätzung: Die ästhetische Qualität von Räumen beeinflusst maßgeblich unser Wohlbefinden – etwa
durch Raumform, Linienführung und Differenziertheit oder durch Fenster, Belichtung und Aussicht. Hier gibt es erste Untersuchungen, aber umfassende Erkenntnisse über die langfristigen Auswirkungen der Ästhetik von Gebäuden stehen noch aus.

Ästhetische Welterfahrung

Lebewesen erleben die Welt mit ihren Sinnen, die darauf spezialisiert sind, für das jeweilige Umfeld angemessene Reaktionen auszulösen. Der mächtige Schwarznussbaum nimmt das Sonnenlicht wahr und streckt diesem seine Krone entgegen, und der Mensch ist lichthungrig und will große Fenster. Denn Farben, Formen, Muster, Klänge, angenehme und abstoßende Sinneserlebnisse und ästhetische Eindrücke beeinflussen das gesamte Körpergefühl und die Haltung, wecken Gefühle und motivieren Menschen zu Bewegungen und Handlungen. Wir eilen beklommen durch eine düstere Unterführung oder lehnen uns entspannt zurück und lassen die Sonnenstrahlen über unser Gesicht tanzen.

Sinneseindrücke sind Menschen jedoch nicht unmittelbar gegeben, sondern gefiltert und überformt. Wir leben in einer „künstlichen Natürlichkeit“, wie es der Philosophische Anthropologe
Helmut Plessner nennt. Der Mensch ist ein Sonderwesen, dessen biologische Natur nicht nur von einer Kultursphäre überwölbt wird, sondern auch von individuellen Erfahrungen und Bedürfnissen geprägt ist. Alle drei Dimensionen, die biologische, die kulturelle und die biografische, erschaffen gemeinsam das jeweilige innere Welt-Bild voller Bedeutung und aufgeladen mit Erwartungen.

Wie tief ästhetische Wahrnehmungen unbewusst die Entscheidungen bestimmen können, zeigt beispielsweise die Attraktivitätsforschung. Sie identifiziert nicht nur biologisch verankerte Kriterien unseres Schönheitsempfindens, sondern belegt auch, dass wir unbewusst positiv auf Schönheit reagieren. Es wurde etwa gezeigt (Leser mit schütterem Haar und Bauchansatz bitte den nächsten Satz überspringen!), dass schöne Menschen intelligenter, selbstsicherer, kreativer und leidenschaftlicher, aber auch geselliger und einfach sympathischer wahrgenommen werden. „Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast“, sagt Johann Wolfgang von Goethe, und so haben schöne Menschen Vorteile selbst im Berufsleben oder der Politik.

Ähnliches gilt für schöne Architektur. Kevin Lynch hatte in den 1960ern gezeigt, wie uns ästhetische Anhaltspunkte unbewusst Orientierungen im städtischen Raum geben, unsere Schritte lenken
und das Wohlbefinden steigern. Die Gestalt und Struktur der Gebäude „vertieft und intensiviert [...] das menschliche Erleben.“ Lynch identifiziert dabei viele konkrete ästhetische Kriterien einer wohltuenden Stadtplanung, etwa die harmonische Balance zwischen erlebbarer Offenheit und Geschlossenheit oder die Einfügung der Baukörper in den Kontext. Eine schöne Architektur ist also durchaus für unser Wohlbefinden, damit aber auch für unsere Gesundheit wichtig...

Gesund sein und gesund bleiben

Die Weltgesundheitsorganisation definierte Gesundheit 1946 als einen Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens, also nicht nur als die Abwesenheit von Krankheiten oder Behinderungen im biologisch-medizinischen Sinn, sondern auch als ein subjektives Empfinden von Wohlsein und Lebensqualität. Als ein zentraler Parameter, um den individuellen Gesundheitszustand einzuschätzen, hat sich der Stresszustand bewährt, den Hans Selye in den 1930er-Jahren als allgemeines Anpassungssyndrom erkannte. Für langfristige Gesundheit und Wohlbe finden ist ein balanciertes Stresslevel entscheidend, ohne Unter- oder Überforderung. In engem Zusammenhang damit stehen Agilität und Resilienz, durch die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit im Sinne von Selbstregulation beschrieben werden.

Zur Stressbewältigung und Steigerung von Agilität und Resilienz sind Spaziergänge an der Regnitz gut, aber auch ästhetische Erfahrungen. Dieser Bereich ist allerdings noch kaum erforscht, obgleich wir etwa 95 Prozent unseres Lebens in Gebäuden verbringen. Und viele davon sind ziemlich scheußlich, etwa von banaler Gleichförmigkeit. Unsere elementaren physischen und psychischen Bedürfnisse werden hier ignoriert, etwa jenes nach Naturerfahrungen oder nach einer Balance des Reizniveaus. Das schmerzt, eben weil wir ästhetisch höchst empfindsame Wesen sind. Wir brauchen Differenziertheit, Abwechslung und Reize des jeweils situativ Schönen – so schwierig der Begriff auch zu fassen sein mag – für unser Wohlbefinden. Hier kann und muss Architektur bewusster menschengerecht vorgehen, um Gesundheit und Resilienz zu befördern.

Institut Mensch & Ästhetik

„Wir formen unsere Gebäude, danach formen sie uns“, meinte Churchill. Aber wie können wir so gestalten und bauen, dass das Erscheinungsbild unserer Gebäude eine harmonisierende, psychisch und physisch stabilisierende Wirkung auf uns ausübt?

Das geplante Institut Mensch & Ästhetik, eine Kooperation der Forschenden Martin Düchs und Christian Illies von der Universität Bamberg mit Michael Heinrich und Niko Kohls von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg, will diese Fragen interdisziplinär beantworten. Die Auswirkungen ästhetischer Erfahrungen insbesonderein Design und Architektur sollen in Grundlagenforschung systematisch erfasst und die dafür relevanten Ergebnisse unterschiedlicher Disziplinen synergetisch zusammengeführt werden. Dazu treten eine anwendungsbezogene Forschung und Lehrangebote, um Erkenntnisse in konkrete und umsetzbare Empfehlungen und Handreichungen für die Archi-tektur-, Städtebau- und Designpraxis zu übersetzen.

Diese Ziele erfordern die Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten der Bereiche Psychologie, Architektur, Design, Gesundheitsforschungund Philosophie. Die Wahrnehmungspsychologie
vermittelt Einsichten in die Zusammenhänge ästhetischer Qualitäten und menschlicher Reaktionen, die Gesundheitsforschung (Salutogenese) vollzieht den Brückenschlag zum langfristigen Wohlbefinden. Die Philosophische Anthropologie kann integrative Modelle der ästhetischen Erfahrung bereitstellen, die zwischen Bedürfnisprofilen und dahinterliegenden Menschenbildern vermittelt. Andererseits bedarf es auch einer ethischen Bewertung ästhetisch relevanter Interventionen, etwa in Stadtplanung oder anderen öffentlichen Aufgabenstellungen, da sich Entscheidungen nicht allein wissenschaftlich legitimieren lassen. Wer bestimmt, wie unsere Umwelt aussieht? Sind Sorgfalt und Schönheit unserer gestalteten Lebensräume allen
Bürgern zugänglich? Grundsätzliche Fragen einer von vielen geteilten Vorstellung des Guten müssen reflektiert werden, damit salutogenetische, also gesundheitsstärkende Anwendungsleitlinien formuliert werden können. Denn dieser Brückenschlag von Grundlagenforschung zur Praxis ist unser Anliegen. In enger Zusammenarbeit mit Architekten und Designern sollen die Erkenntnisse
schließlich für die gestalterische Praxis zugespitzt sowie in Bildungs- und Fortbildungsangeboten vermittelt werden. Das Ziel ist es, auf diese Weise auch ganz praktisch zu einer gelungeneren Architektur und Gestaltung beizutragen, die dem Menschen nachweislich gut tut.

Nachtrag: Ästhetische Erfahrung am Beispiel Licht und Architektur

Licht ist existentiell: Auf Lichtatmosphären reagieren Menschen unmittelbar biophysiologisch und intuitiv. Manche Licht-Raum-Anordnungen sind dabei kulturanthropologisch universal, gleichsam archetypisch. Dazu treten jeweils kulturelle und individuelle Aneignungsweisen. Der Lichteinfall von oben – unterstützt von geschlossenen Raumseiten – betont Introversion und Schutz bei gleichzeitiger Verbindung zu den physisch existentiellen, aber auch metaphysisch aufgeladenen Elementen Licht und Luft. Er wird daher gerne dort eingesetzt, wo Menschen in irgendeiner Weise auf ihre Innerlichkeit oder auf eine geschlossene Binnenwelt Bezug nehmen und der Alltagswelt entzogen werden sollen – etwa in Sakral-, Meditations- oder Wellness- Räumen, in Bildungs- und Kultureinrichtungen, aber auch in Shopping Malls, wo der Konsum als alleiniger Attraktor die Aufmerksamkeit dominiert und einen quasi-kultischen Gegenstand der Verehrung darstellt.

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Seite 153361, aktualisiert 25.08.2022