Bibliotheken stehen vor der Herausforderung, historische Quellen für nachfolgende Generationen zu bewahren, aber zugleich die Benutzung in Forschung und Lehre zu ermöglichen. Es gilt, eine Balance zwischen konservatorischen Anforderungen und dem berechtigten Wunsch zur Arbeit mit den Quellen zu finden. Digitale Angebote ermöglichen den komfortablen Zugriff auf die Inhalte und erleichtern die Recherche. Aber der Zugang zu den Originalen bleibt weiterhin unerlässlich.
Das schriftliche Kulturerbe der Menschheit war und ist vielfältigen Bedrohungen ausgesetzt. Im Laufe der Jahrhunderte sind zahllose Dokumente verloren gegangen; von manchen mittelalterlichen Werken kennt man heute nur noch den Titel, aber nicht den Inhalt. Handschriften wurden zerschnitten und ‚recycelt‘, wenn man den Text nicht mehr lesen konnte oder eine neuere Abschrift existierte.
Ein berühmtes Beispiel dafür sind die Livius-Fragmente der Staatsbibliothek Bamberg (Abbildung): Nur drei Textzeugen der vierten Dekade des monumentalen Werks zur römischen Geschichte überstanden die Umbruchszeit der Spätantike und lagen der mittelalterlichen Überlieferung zugrunde. Doch die älteste Bamberger Handschrift aus dem 5. Jahrhundert zerschnitt ein Buchbinder in schmale Streifen, nachdem man im 11. Jahrhundert von ihr eine Abschrift angefertigt hatte, die leichter zu lesen war als die archaisch wirkende unziale Schrift ohne Worttrennung und Satzzeichen. Erhalten haben sich vom spätantiken Codex daher nur vier Fragmente.
Bewusste, absichtsvolle Zerstörung ist das eine Problem, und sie geschieht, wie das Beispiel zeigt, bei weitem nicht nur in Zeiten militärischer Konflikte oder ideologischer Säuberungen. Die andere Schwierigkeit liegt im Material selbst. Im Mittelalter notierte man Texte auf organischen Stoffen wie Pergament aus getrockneten Tierhäuten oder Papier aus Pflanzenfasern, bisweilen auch auf Wachstäfelchen aus Holz oder Knochen. Als Gedächtnisinstitutionen müssen Bibliotheken das ihnen anvertraute Schriftgut bewahren und Lagerungsbedingungen schaffen, die den optimalen Schutz der Materialien vor Schäden gewährleisten.
Konservatorische Aufgaben
Während in mittelalterlichen Klosterbibliotheken zwar Ketten die Bücher vor Dieben sicherten, aber Mäuse und Holzwürmer ungehinderten Zutritt hatten, verhindern heute Alarmanlagen und integrated pest management unerwünschtes Eindringen. Die kontinuierliche Überwachung des Raumklimas in Ausstellungsräumen und Handschriftentresoren ist selbstverständlich, auch wenn eine vollständige Klimatisierung in historischen Gebäuden weder machbar noch – zumal in Zeiten der Energiekrise – finanzierbar ist. Aber zumindest ist dafür zu sorgen, dass die Raumtemperatur keinen großen Schwankungen unterliegt und die maximal zulässige Luftfeuchtigkeit nicht überschritten wird, sonst besteht das Risiko, dass sich das Pergament wellt, Farbschichten der Buchmalerei abplatzen oder Papier und Ledereinbände zu schimmeln beginnen.
Angesichts dieser Gefährdungen gilt es, Kompromisse zwischen den Bedürfnissen der Benutzerinnen und Benutzer und dem Erhalt der Objekte zu finden. Abzuwägen ist zwischen der langfristigen Aufgabe der Erhaltung von Wissen über Generationen hinweg und den aktuellen Anliegen von Wissenschaft und Lehre. Die technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters haben hier enorme Erleichterungen gebracht. Während früher nur ausgewählte Spitzenstücke mittelalterlicher Buchkunst in originalgetreuen Farbfaksimiles einsehbar waren, machen heute alle bedeutenden Bibliotheken bereits große Teile ihrer historischen Bestände in hochwertigen Digitalisaten online zugänglich – und das kostenfrei zum Herunterladen und mit komfortablen Navigationsmöglichkeiten.
Digitale Angebote
Von den tausend mittelalterlichen Handschriften, die in der Staatsbibliothek Bamberg gehütet werden, ist aktuell etwa ein Drittel im Internet einsehbar. Als im Jahr 2008 mit der Digitalisierung begonnen wurde, standen zunächst die ältesten und kostbarsten Codices im Mittelpunkt: die 165 Handschriften, die im Zuge der Bistumsgründung durch Kaiser Heinrich II. am Anfang des 11. Jahrhunderts nach Bamberg gelangt waren. Zu ihnen gehören drei herausragende Zeugnisse der mittelalterlichen Buchmalerei und Wissenschaft. Die Bamberger Apokalypse (Abbildung) und der Kommentar zum Hohelied mit Miniaturen aus der berühmten Malerwerkstatt auf der Reichenau im Bodensee bilden den Höhepunkt der ottonischen Buchkunst und wurden daher im Jahr 2003 zusammen mit acht anderen Codices aus diesem Skriptorium in das Memory of the World Programme der UNESCO aufgenommen. Das karolingische Arzneibuch aus dem Benediktinerkloster Lorsch (Abbildung) folgte 2013; es gilt als das älteste medizinisch-pharmazeutische Buch des abendländischen Frühmittelalters.
In den vergangenen Jahren wurde das Angebot an Digitalisaten sukzessive erweitert. Auf den Internetseiten der Bamberger Schätze finden sich nun auch Handschriften aus dem 1015 gegründeten Benediktinerkloster auf dem Michaelsberg, der prachtvoll illuminierte Bamberger Psalter aus Zeit um 1230 und Raritäten des Buchdrucks wie von Holztafeln gedruckte Blockbücher des 15. Jahrhunderts und vieles mehr.
Wissen vermitteln
So stellt sich nur noch die Frage: Wie bringt man möglichst vielen Interessenten historische Dokumente nahe? Erklärungsbedürftig ist manches: Die Schriften sind ungewohnt und schwer lesbar; Sprachen wie Latein oder gar Griechisch stehen nur noch in wenigen Gymnasien auf dem Lehrplan; die Bildthemen der Illustrationen gehören nicht mehr zum selbstverständlichen Bildungskanon einer Gesellschaft, in der nur noch eine Minderheit mit christlichen Erzählungen vertraut ist. Man muss also einiges an Mühe investieren, um sich die Inhalte der Bücher und ihren historischen Kontext zu erschließen.
Beim Zugang zu den Inhalten leisten Bibliotheken vielfältige Hilfe. Die Digitalisate sind mit Informationen angereichert, die die Navigation erleichtern. So können Benutzer*innen gezielt zu bestimmten Textstellen springen; manchmal – wie beim Lorscher Arzneibuch – sind die Inhalte sogar als Volltext in deutscher Übersetzung zugänglich und können durchsucht und gelesen werden. Für die Miniaturen der Bamberger Apokalypse und andere Buchillustrationen gibt es Bilderklärungen. Die Informationen basieren auf wissenschaftlichen Editionen oder eigenen Erschließungsprojekten der Staatsbibliothek. So werden die mittelalterlichen Handschriften mit Buchmalerei seit den 1990er-Jahren mit Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) kunsthistorisch bearbeitet.
Neben dem Zugang über das Internet ist aber weiterhin die Einsicht in die Originale für Forschung und Lehre unverzichtbar. Die Materialität der Handschriften ermöglicht Erkenntnisse, die auch das beste Digitalisat nicht vermitteln kann. So ist schon die Größe eines Buchs ein Indiz dafür, ob es für die gemeinschaftliche oder für die private
Lektüre diente. Wasserzeichen im Papier können Aufschluss darüber geben, wann ein Text niedergeschrieben wurde. In den Räumen der Staatsbibliothek Bamberg finden regelmäßig universitäre Lehrveranstaltungen statt, bei denen originale Quellen analysiert werden und der schonende Umgang mit ihnen vermittelt wird. Bisweilen fließen sogar studentische Ideen in die Konzeption von Ausstellungen ein oder Praktikant*innen gestalten virtuelle Ausstellungen.
Die Auseinandersetzung mit historischen Büchern öffnet den Blick dafür, mit welchen Problemen Menschen in früheren Zeiten konfrontiert waren und wie sie sie zu lösen versuchten. Und vielleicht erkennt dann doch der eine oder die andere, dass die Tätigkeit in einer Bibliothek, einem Archiv oder Museum nicht den lebenslangen Kampf gegen Staub und Bücherwürmer bedeutet, sondern vor allem dazu anregt, Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Wer hat dieses Dokument wann und wo geschrieben? Wem gehörte dieses Buch? Was wollte der Künstler mit diesem Bild zum Ausdruck bringen? Und: Warum ist das für uns heute noch relevant? Wenn man das versteht, wird man alte Bücher nicht ungelesen als Altpapier entsorgen.