Eine Nachricht, die weit über Frankreich hinaus für Betroffenheit sorgte: 2019 fing die Kathedrale Notre-Dame in Paris Feuer und wurde stark beschädigt. Hochwertige Scans der baulichen Substanz erlaubten es, den vollständigen Wiederaufbau des Dachstuhls als Ziel zu formulieren. An diesem gewaltigen Vorhaben ist auch die Universität Bamberg beteiligt. Darüber hinaus gewinnen die Forscherinnen und Forscher laufend neue Erkenntnisse über dieses besondere Weltkulturerbe.
Montag, 15. April 2019: Die Nachricht über den Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame verbreitet sich rasant über die Medien. Die Bilder des einstürzenden Turmes über der Vierung gehen ans Herz, nicht nur in Paris. Eine der berühmtesten Kathedralen der Welt steht in Flammen – lichterloh. Ist das Bauwerk noch zu retten? Der Schock sitzt tief, schließlich zählt die französische Kathedrale seit 1991 zum UNESCO-Weltkulturerbe; ein einzigartiges Bauwerk, das eine universelle Bedeutung für die gesamte Menschheit besitzt. Notre-Dame ist nicht nur touristischer Anziehungspunkt, sondern mehr noch: Sie ist das Identitätssymbol der französischen Nation und auch heute noch ein wichtiger Ort für viele Gläubige.
Inzwischen liegt der Brand, der im Dachstuhl der Kathedrale ausbrach, vier Jahre zurück. Heute befindet sich hier, im Herzen der französischen Hauptstadt, eine Denkmalpflegebaustelle mit dem größten Kran Europas. Hunderte von Arbeiterinnen und Arbeitern sind damit beschäftigt, die verletzte Dame wieder in Form zu bringen. Schließlich hat der französische Präsident Emmanuel Macron nur wenige Tage nach der Zerstörung ein großes Versprechen gegeben: 2024, rechtzeitig zu den Olympischen Spielen, soll Paris seine Kathedrale zurückhaben, und zwar „schöner denn je“! Was die einen als ‚verrückt‘ abwiegelten, machte den anderen Mut. Heute, ein Jahr vor der versprochenen Wiederauferstehung, stellt sich die entscheidende Frage: Kann Macron sein Versprechen halten? Der Druck steigt …
Der Wiederaufbau beginnt – aber wie?
Was ist seit April 2019 in der Kathedrale passiert? In den ersten Stunden nach dem Ausbruch des Brandes galt die ganze Aufmerksamkeit den Feuerwehrleuten, die geradezu Übermenschliches leisteten. Durch schnelles und kluges Eingreifen, Mut und Entschlossenheit grenzten sie das Feuer auf den brennenden Dachstuhl ein und verhinderten Schlimmeres. Denn hätten sich die Flammen bis zur Westfassade durchgefressen, wäre das Bauwerk wohl kaum mehr zu retten gewesen. Schon wenige Tage nach dem Brand meldeten sich großzügige Geldgeber zu Wort. Sie ermöglichten es, den Wiederaufbau der Kathedrale rasch in Angriff zu nehmen. Es gründete sich eine Bauhütte, die in zwei Richtungen agiert: Zum einen wirken hier drei Architekten, zum anderen zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Beide Abteilungen arbeiten Hand in Hand und widmen der verletzten Kathedrale jeweils die Aufmerksamkeit, die sie für ihre vollständige ‚Genesung‘ benötigt. Erforschung, Erkenntnis und Erhalt sind dabei die wichtigsten Schlagworte des Wiederaufbaus.
Was die Erforschung und den Erhalt der Kathedrale betrifft, leistete die Universität Bamberg schon kurz nach dem Brand einen wichtigen Beitrag. Denn – Glück im Unglück – genau die Teile des Gebäudes, die bei dem Brand zu Schaden gekommen waren, waren einige Jahre zuvor von einem Bamberger Team intensiv untersucht worden. Die Basis aller weiteren Forschungen war ein Scan, den das Forschungsteam von beiden Querhäusern, innen wie außen und nach neuester Technik, angefertigt hatte. Diese Daten stellte die Universität Bamberg den französischen Kolleginnen und Kollegen umgehend zur Verfügung.
Relativ bald nach dem Brand setzten die Diskussionen um die Art und Weise des Wiederaufbaus der Kathedrale ein. Es kursierten die abenteuerlichsten Entwürfe und Ideen über den Umgang mit diesem verbrannten Erbe der französischen Nation. Sollte die alte Kathedrale ein modernes Antlitz erhalten oder einfach ‚nur‘ ihren mittelalterlichen Dachstuhl zurückbekommen? Dass diese letzte Möglichkeit der Rekonstruktion überhaupt in Frage kam, ist einem weiteren ‚Glück-im-Unglück‘ zu verdanken, denn eine französische Firma hatte kurz zuvor den gesamten Dachstuhl eingescannt, und eine gerade abgeschlossene Dissertation lieferte die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Den Diskussionen zum Trotz wurde am Ende deutlich, dass die Patientin den Weg zur Genesung selbst vorgab. Alle vorhandenen Untersuchungen und Materialien samt den neuesten Beobachtungen vor Ort ließen nur einen Schluss zu: Ein vollständiger Wiederaufbau erschien nicht nur möglich, sondern alternativlos. Warum? Weil die Kathedrale Notre-Dame ein in sich geschlossenes System darstellt, das zu stark auf Veränderungen reagieren würde, wenn man tief eingreift. So hätte zum Beispiel eine Veränderung der Statik eine Veränderung der tragenden Fundamente zur Folge, der stützenden Strebepfeiler und auch der Wände. Wer wollte dieses Risiko eingehen?
Der Wiederaufbau als offener Prozess
In den vergangenen vier Jahren, die mit dem großen Aufräumen begannen, mit dem Ordnen der verschiedenen Materialien nach Eisen, Blei, Holz und Steinen ihren Lauf nahmen und schließlich in der umfassenden Reinigung der schwarzen Wände mündeten, hatten die Beteiligten begriffen, dass der Wiederaufbau ein offener Prozess ist, der stetig angepasst werden muss; angepasst an die neuesten Erkenntnisse der Forschung, an die Bedürfnisse des Baus und an die Taktung des Zeitplans.
Wurde anfangs noch daran gedacht, die alten Materialien so weit wie möglich wiederzuverwenden, entschieden sich die Architekten aus technischen und zeitlichen Gründen doch dagegen. Beim Wiederaufbau des Dachstuhls wird nun das frische Eichenholz dünner Stämme verwendet, weil inzwischen bekannt ist, dass sich auf diese Weise die arbeitenden Hölzer besser verkeilen können. Und tatsächlich wird beim Dachstuhl auf Vorrat gearbeitet, damit das große Gefüge am Ende rasch zu installieren ist. Dabei entspricht die Bearbeitung der Hölzer nicht dem mittelalterlichen Vorgehen, denn nun verwendet man gesägte Balken, die erst später überbeilt werden. Auf diese Weise entzünden sich die Fasern im Falle eines Brandes nicht mehr so schnell.
Ein anderes Beispiel ist der Umgang mit den beiden Kapellen am nördlichen Langhaus. Die hatte der berühmte Denkmalpfleger und Restaurator der Kathedrale, Eugène Viollet-le-Duc, komplett mit einer Wandmalerei des 19. Jahrhunderts ausgestattet. Man entschied sich hier zu einer lückenlosen Rekonstruktion der Farb- und Goldflächen, weil sonst die umwerfende Wirkung der Malerei verloren gegangen wäre.
Die Katastrophe als Chance: Neue Erkenntnisse sind möglich
Die riesige Baustelle mit ihren Gerüsten und Grabungen eröffnet der Forschung beispiellose Blicke hinter die Kulissen, und dabei treten immer wieder wichtige Erkenntnisse zutage. So haben neueste Untersuchungen ergeben, dass die Kathedrale konsequent mit Eisenverankerungen gestützt worden ist. Überraschend war dabei auch der Umstand, dass das Strebewerk der Kathedrale nicht nur von Anfang an geplant war, sondern sich über das Langhaus hinaus auch auf die anderen Gebäudeteile erstreckte.
Die Universität Bamberg ist am Wiederaufbau weiterhin forschend beteiligt: So werden bei einem Vorhaben die Gerüste vor Ort genutzt, um sich mit der vom Brand nicht betroffenen Dreiportalanlage im Westen der Kathedrale zu beschäftigen. Hier stehen Konstruktion und Ikonographie auf dem Prüfstand, und erste Erkenntnisse zeigen bereits, dass sich die Sicht auf Notre-Dame und den französischen Kathedralbau noch einmal erheblich verändern könnte.
Die Katastrophe von Paris hat die Bedeutung und Berechtigung der drei Säulen des Wiederaufbaus vor Augen geführt: Erforschung, Erkenntnis und Erhalt. So ist die Katastrophe auch als Chance zu begreifen. Im Jahr 2024 wird die Kathedrale zumindest teilweise wiedereröffnet. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit.