In Deutschland haben sich vom 11. Jahrhundert an etwa 2.400 jüdische Friedhöfe erhalten. Kein anderes europäisches Land besitzt – trotz großer Verluste – eine vergleichbar alte, reiche und vielschichtige Überlieferung. Die Friedhöfe zählen zu den ältesten Zeugnissen der Sepulkralkultur in Deutschland. Ihre Erhaltung, Dokumentation, Erschließung und Vermittlung ist eine Aufgabe von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, dennoch haben sie bislang nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen als religiös-kulturellen Orten der Erinnerung, als Ausdruck individueller und korporativer jüdischer Identität sowie als historischen, literarischen und materiellen Quellen zukommt.
Forschende untersuchen ausgewählte jüdische Friedhöfe
Diese Forschungslücke schließt nun ein auf 24 Jahre angelegtes Vorhaben. Forschende der Universität Bamberg sowie des Steinheim-Instituts der Universität Duisburg-Essen dokumentieren im Rahmen des Projektes „Steinerne Zeugen digital – Deutsch-jüdische Sepulkralkultur zwischen Mittelalter und Moderne – Raum, Form, Inschrift“ ausgewählte jüdische Friedhöfe. Projektträgerinnen sind die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste. Das Vorhaben ist Teil des von Bund und Ländern geförderten Akademienprogramms, das in der Förderrunde 2023 dem Schwerpunkt Erschließung, Sicherung und Erforschung des globalen kulturellen Erbes dient. Durch die Förderung können mehrere wissenschaftliche Stellen über die Laufzeit hinweg bereitgestellt und durch Qualifikationsstellen und Lehre die Ausbildung der nächsten Generation in diesem Bereich gesichert werden.
Judaistik, Bauforschung und digitale Denkmaltechnologien arbeiten zusammen
35 Friedhöfe, 33.600 Grabmale und über 19.000 Inschriften aus ganz Deutschland, die einen Untersuchungszeitraum von der Frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert abdecken, sind zur Dokumentation vorgesehen. Neben den Inschriften erfasst das Team die geographischen Gegebenheiten der Anlage, bauliche Merkmale wie das Material, die Formensprache, den Erhaltungszustand und die Anordnung der Grabmale. Die Universität Bamberg bildet mit der Judaistik, den Digitalen Denkmaltechnologien und der Bauforschung und Baugeschichte, das interdisziplinäre Gerüst des Vorhabens. „Auf diese Weise wird es möglich, die in ihrem Bestand gefährdeten jüdischen Friedhöfe als Kulturdenkmale und als Reservoir an wertvollen Aussagen über das Leben der jüdischen Minderheit in Franken umfassend zu würdigen“, erläutert Prof. Dr. Susanne Talabardon, Professorin für Judaistik an der Universität Bamberg. Das besondere Profil der Universität Bamberg mit dezidiert geisteswissenschaftlicher Ausrichtung sowie das Wechselspiel des Kompetenzzentrums für Denkmalwissenschaften und Denkmaltechnologien (KDWT) und des Zentrums für Interreligiöse Studien (ZIS) böten wesentliche Voraussetzungen für das Projekt.
Die interdisziplinäre Grundlage des Projekts ermöglicht zudem neue Forschungsfragen und Perspektiven auf das jüdische Leben jenseits der großen Zentren. Mit der Judaistik hat das Projekt Expertise, die seit 2008 in Forschung und Lehre die große epigraphische und historische Kompetenz insbesondere für die fränkischen Friedhöfe erworben und weitervermittelt hat. „Durch die Einbindung der beiden denkmalwissenschaftlichen Arbeitsbereiche ‚Digitale Denkmaltechnologien’ und ‚Bauforschung und Bauerhalt’ wird zudem gewährleistet, dass neben den Inschriften auch der Informationsgehalt der materiell vorhandenen Objekte einfließen kann“, erklärt Prof. Dr. Mona Hess, Inhaberin des Lehrstuhls für Digitale Denkmaltechnologien an der Universität Bamberg. Dazu zählen etwa die baugeschichtliche sowie topographische und geo-räumliche Verortung der Objekte. „Das erreichen wir durch 3D-Vermessung und Aufnahmen des Gesamtfriedhofes sowie des einzelnen Steines mit Modellierung und semantischer Beschreibung von Bestand und Zustand. Insgesamt erreichen wir so eine ganzheitliche Betrachtung“, sagt Hess.
Digitales Text- und Bildcorpus wird erstmals zugänglich sein
Die Ergebnisse werden als digitales Text- und Bildcorpus publiziert. „Das bietet in idealer Weise die Möglichkeit, die heterogenen Daten der Verbundpartner in eine gemeinsame Daten- und Forschungsplattform zusammenzuführen“, erklärt Talabardon. Zur digitalen Integration der fachspezifischen Daten aus Epigraphik, Bauforschung und Denkmaltechnologien wird das Informationssystem für raumbezogene digitale Dokumentation MonArch eingesetzt. Trotz und wegen des Verlustes vieler schriftlicher und baulicher Belege ist es das Ziel, die letzten Ruhestätten der Jüdinnen und Juden als Zeugen für ein Jahrhunderte währendes Neben- und Miteinander von Mehrheit und Minderheit zu erschließen. Dies geschieht auch in Zusammenarbeit mit nicht-universitären Interessensgruppen und in Austausch mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege.
Die Forschung zu jüdischen Friedhöfen ist an der Universität Bamberg bereits fest etabliert. In den vergangenen Jahren untersuchten die Forschenden vor allem jüdische Friedhöfe in Franken. Einen Einblick gibt ein Film im Rahmen der Multimedia-Reportage zum Forschungsschwerpunkt Digitale Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften: https://forschungsprofil.uni-bamberg.de/digital#section-83
Mehr zum aktuellen Projekt unter: https://fis.uni-bamberg.de/entities/project/32e5096f-966d-477f-8d7d-5e1f6a6c0e12/details
Webseite mit ausführlicheren Projektinformationen aller Partner: www.steinerne-zeugen.digital (Befindet sich im Aufbau)