Kulturelles Erbe wird zusehends als eine soziale und kulturelle Praxis begriffen. Damit stehen nicht mehr nur Fragen nach der Erhaltung oder Konservierung eines materiellen Kulturerbes im Vordergrund. Gesellschaftliche und politische Aspekte der Selbstermächtigung und Zugehörigkeit werden immer wichtiger – und allgemein das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung. Die Aufgabenteilung zwischen wissenschaftlichen Institutionen und kritischen Akteuren zu überdenken, scheint deswegen dringend geboten.
Die internationalen Debatten um das kulturelle Erbe haben eine neue Richtung genommen. Verkürzt kann man von einem anthropological turn in den Denkmalwissenschaften sprechen, die nicht mehr ‚alte Dinge‘, sondern zugleich das Soziale und die Akteure in den Mittelpunkt stellen. Was ist damit genau gemeint? Herkömmlicherweise wird das kulturelle Erbe – oder Heritage, wie es in den englischsprachigen Debatten heißt – an Werte geknüpft, die sich als gegeben, feststehend oder inhärent präsentieren und das Materielle betonen. Die deutschen Denkmalschutzgesetze etwa binden den Erhaltungsauftrag für Denkmäler an eine geschichtliche, künstlerische, städtebauliche, wissenschaftliche oder volkskundliche Bedeutung, die durch ein wissenschaftliches Gutachten von Fachleuten festzustellen ist. Diese Regelungen waren bereits in den 1970er-Jahren, als die einschlägigen Gesetze erlassen wurden, für manche nicht mehr zeitgemäß. Lucius Burckhardt etwa, Professor an der Universität Kassel, forderte 1975 ein, Denkmalpflege als Sozialpolitik aufzufassen und Partizipation in allen Planungsbelangen zu intensivieren.
Heute ist es Konsens, dass Werturteile kulturell und sozial geprägt sind, unter anderen durch Herkunft, Geschlecht, Klasse oder Ethnizität. In einer Gesellschaft, die heterogener und vielstimmiger wird, ist es durchaus problematisch, kulturelle Bewertungen an Wissenschaft oder Ämter zu delegieren. Der Begriff einer vermeintlich homogenen Leitkultur wird heute vor allem vom rechten Rand her instrumentalisiert, um kulturelle Selbstbestimmung und Mitspracherechte unliebsamer Minderheiten zu beschneiden. Hierbei handelt es sich um Delegitimierungsstrategien, die dem Selbstbild einer pluralistisch-demokratisch verfassten Gesellschaft entgegenstehen.
Globalisierung und Politisierung: die Bedingtheit kultureller Wertzuschreibungen
Auch aus denkmalwissenschaftlicher Perspektive hat das Thema im Zuge der Globalisierung an Brisanz gewonnen. Je stärker sich die Akteure aus der Dominanz europäischer Narrative und tradierter Machtverhältnisse zu lösen vermochten, traten die unterschiedlichen Auffassungen von kulturellem Erbe deutlicher zu Tage. Der ‚klassische‘, im Europa des 19. Jahrhunderts entstandene Denkmalbegriff mit seiner Fixierung auf monumentale Architekturen erweist sich bei vorurteilsloser Betrachtung tatsächlich als ein Sonderfall. Gerade in asiatischen oder afrikanischen Gesellschaften sind die identitätsbildenden Vorstellungen von kulturellem Erbe oft stärker an Orte, Rituale und Praktiken gebunden als an konkrete Artefakte und Architekturen.
Eine Konsequenz daraus ist die inzwischen auch auf institutioneller Ebene vollzogene Aufwertung des immateriellen Erbes (intangible heritage), das die UNESCO 2003 in ihrem Welterbeprogramm als gleichwertige Kategorie neben das materielle (tangible) gestellt hat. Dies hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass Bewertungs- und Tradierungsprozesse von kulturellem Erbe oft an bestimmte Akteurskonstellationen gebunden sind, diese werden auch Heritage Communities genannt. Was beim Kölner Dom möglicherweise nicht sofort ins Auge springt, wohl aber beim Kölner Karneval, ist der Umstand, dass sich der jeweilige Wert jenseits kultureller Grenzen nur schwer erschließt; und bereits einem Alemannen das Kölner Spektakel herzlich egal sein kann.
Wer spricht: kulturelles Erbe als Abbild gesellschaftlicher Machtverhältnisse
Die Denkmalwissenschaften haben, insbesondere mit den Critical Heritage Studies, inzwischen weitreichende Konsequenzen aus den Erfahrungen und Spannungen der Globalisierung gezogen. Kulturelles Erbe wird heute allgemein nicht mehr als eine ‚Hinterlassenschaft‘ aufgefasst, sondern als eine komplexe soziale Praxis der Reklamierung, Aneignung und Tradierung. Sein Wert kann nicht unabhängig oder fachlich bestimmt werden, sondern nur im Kontext der auf dieses Erbe positiv bezogenen Gemeinschaften und deren Wissensbestände und Werturteile. Damit rückt eine zutiefst politische Dimension des kulturellen Erbes in den Vordergrund.
Welche Erbebestände sichtbar werden, wer Gehör findet, was erhalten, tradiert werden kann und was ungesehen bleibt, marginalisiert oder zerstört wird, darin bilden sich sehr direkt Machtverhältnisse ab. Die Wut der Black Lives Matter-Bewegung (BLM) richtet sich nicht nur gegen die allgegenwärtige Diskriminierung der People of Color, sondern auch gegen eine Kultur- und Heritage-Politik, die die erlittene Gewalt fortschreibt. Indigene Bürger in Siedlergesellschaften kämpfen um Anerkennung, Mitsprache und Besitztitel; die Unterdrückung der turksprachigen Uiguren in China zielt über ihre politische Neutralisierung hinaus auf eine Zerstörung ihrer kulturellen Identität. Der Abriss des Berliner Palastes der Republik für den Schlossneubau wäre, um ein näherliegendes und weniger dramatisches Beispiel zu nennen, wohl unterblieben, wenn die Entscheidung von Ostdeutschen gefällt worden wäre.
Die Postkoloniale Forschung hat herausgearbeitet, dass die etablierten Vorstellungen von Kultur und kulturellem Erbe Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen unterstützen und legitimieren. Das westliche Überlegenheits- und Sendungsbewusstsein wurzelt in einem Zivilisationsbegriff, der die europäische Kultur in eine Reihe mit Rom und Griechenland stellt; alles andere wird als mehr oder weniger ‚unterentwickelt‘, unzivilisiert, oder gar als unzivilisierbar gebrandmarkt und damit zur Ausbeutung, Entrechtung und Vernichtung freigegeben. Wie schwer es fällt, sich von etablierten Vorstellungen zu lösen, ist an den langwierigen Restitutionsdebatten von kolonialem Raubgut wie den Benin-Bronzen zu sehen, das bis heute und lange Zeit ohne jegliches Unrechtbewusstsein ein Kernbestand der westlichen Museen ist.
Die Hinwendung zum Sozialen als eine Chance
Aus dieser Perspektive wird die Rolle von Museen, Universitäten oder Denkmalämtern, denen herkömmlicherweise eine Schlüsselrolle in der Erfassung, Erforschung und Vermittlung von kulturellem Erbe zugesprochen wird, zurecht als autoritär und affirmativ wahrgenommen. Eine Wissenschaft, die sich für diese Zusammenhänge blind stellt und mit der Autorität eines – als neutral und damit unpolitisch verstandenen – Fachwissens argumentiert, kann zu einem Instrument der Ausgrenzung werden. In Deutschland steht eine Ablösung der skizzierten objektbezogenen Auffassung von kulturellem Erbe in der Alltagspraxis noch am Anfang. Insbesondere in der Fachdenkmalpflege ist die Einsicht relativ neu, dass ihre Handlungen grundsätzlich gesellschaftliche und politische Implikationen haben; an wichtigen gedenkpolitischen Initiativen, etwa zu Orten der Demokratiegeschichte, ist sie institutionell nicht beteiligt. Dabei bietet der anthropological turn in den Heritage-Wissenschaften fruchtbare Ansätze für die anstehenden gesellschaftspolitischen Konflikte einer pluralistischen Gesellschaft. Wenn kulturelles Erbe nicht als autoritärer Kanon begriffen wird, sondern als eine soziale und kulturelle Praxis, treten Werte wie kulturelle Selbstbestimmung, Selbstermächtigung und Zugehörigkeit in den Vordergrund. Kulturelles Erbe kann so wichtige Ressourcen aktivieren und gegenseitige Anerkennung ebenso fördern wie die Sichtbarkeit von Marginalisiertem erhöhen. In einer Zeit, in der zunehmend rechtspopulistische und demokratiefeindliche Akteure die Deutungshoheit von kulturellem Erbe für sich reklamieren, ist es dringend geboten, die Aufgabenteilung zwischen wissenschaftlichen Institutionen und kritischen Akteuren neu zu bestimmen.