Die Ergebnisse der aktuellen Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) sind im Mai 2023 erschienen. Ein Auszug der Ergebnisse: Schüler*innen der vierten Klasse lesen schlechter als noch vor fünf Jahren. Ein Viertel der Kinder erreicht beim Lesen nicht den international festgelegten Mindeststandard, der für das weitere erfolgreiche Lernen nötig wäre. Die Lesemotivation der Kinder in Deutschland nimmt ab. Ein Projekt, das dazu beitragen möchte, diesen negativen Trends entgegenzuwirken, ist „LitSpatz“. Wissenschaftler*innen haben im Rahmen dieses Projekts einen virtuellen literarischen Spaziergang für Grundschulkinder entwickelt, der jetzt als App an den Start ging. Im Interview beantwortet Dr. Nora Heyne vom Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung nicht nur Fragen zum Projekt, sondern auch dazu, was beim Hören und Lesen von Geschichten überhaupt in unserem Kopf abläuft, ob Lesen gesünder ist als Fernsehen und warum Lesen für uns wichtig ist.
Liebe Frau Heyne, Sie haben mit anderen Wissenschaftler*innen zusammen einen virtuellen literarischen Spaziergang für Grundschulkinder entwickelt. Welches Ziel verfolgen Sie damit?
Nora Heyne: Unser vorwiegendes Ziel im Projekt „LitSpatz“ ist es, ein Angebot bereitzustellen, das zu der Förderung von Grundschulkindern in Bezug auf ihre Fähigkeiten im Zuhören, Verstehen sowie Reflektieren von Texten, Einnehmen von Perspektiven literarischer Figuren und ihre Lesemotivation, als wesentliche Grundlagen des Erwerbs von Lesekompetenz, beitragen kann. Dazu bietet das Angebot, in Form einer App, Kindern die Möglichkeit, eine begehbare Geschichte anzuhören und sich mit dieser – kritisch und in Bezug auf die eigene Lebens(um)welt sowie die Perspektiven der darin vorkommenden Charaktere – auseinanderzusetzen. Eine solche Auseinandersetzung mit Geschichten, vor allem beim Vorlesen und im Austausch mit anderen, hat sich in Studien als wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Fähigkeiten im Zuhören, im Verstehen und Reflektieren von Texten sowie von Lesemotivation gezeigt. Zudem können Kinder nach unserer Erwartung beim Hören der begehbaren Geschichte – durch die dargestellten „Kulissen“ des Geschehens direkt vor Ort oder durch Illustrationen zu den jeweiligen Schauplätzen – darin unterstützt werden, die Handlung zu verstehen, in diese einzutauchen und dabei auch die Perspektiven der beteiligten Figuren einzunehmen. Entsprechende Anregungen zur Perspektivenübernahme bietet die in der App präsentierte Geschichte, die in der vorangegangenen Studie „Perspektivenübernahme beim Verstehen literarischer Texte“ (PÜLit) entstand, vor allem in Szenen, in denen die Hauptfigur verschiedenen Charakteren mit unterschiedlichen Ansichten, Aussichten und Absichten begegnet. Das dadurch geforderte und geförderte Hineinfühlen und Hineindenken in literarische Figuren ist, nach aktuellen Annahmen, eine wesentliche Voraussetzung, um Lesefreude, Lesegewohnheiten und somit Lesefähigkeiten wie auch soziale Kompetenzen von Kindern zu stärken.
Darüber hinaus wollen meine Kolleginnen und ich die App nutzen, um mehr Erkenntnisse zur Förderung von Lesekompetenz und den damit verknüpften Fähigkeiten zu gewinnen. Dazu werten wir das Vorgehen wie auch die Antworten der Kinder bei der Nutzung der App aus, die, gemäß den Datenschutzbestimmungen, in anonymisierter Form erfasst werden.
Sie haben gerade die Lesefähigkeit erwähnt. Welche Prozesse laufen in unserem Kopf überhaupt ab, wenn wir lesen?
Für die Prozesse, die beim Lesen im Kopf ablaufen, gibt es in der Wissenschaft unterschiedliche Beschreibungen. Weitgehend einig ist sich die Forschung über allgemeine Prozesse, die beim Lesen verschiedener Arten von Texten ablaufen und von denen auch in großen Studien, wie etwa dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) und Program for International Student Assessment (PISA), ausgegangen wird: Demnach werden beim Lesen zunächst die Buchstaben entziffert, zusammengelautet und Wörter erkannt. Den Wörtern werden Bedeutungen zugewiesen, die im Laufe des Lesens im Gedächtnis bleiben und in einen bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden. Das gelingt umso besser, je flüssiger die vorherigen Prozesse ablaufen. Aufbauend auf diese basalen Leseprozesse wird der Sinngehalt von Wortgruppen und Sätzen – Zeile um Zeile, Satz für Satz – verstanden und in ein immer komplexer werdendes Zusammenhangsgefüge integriert, das im Gedächtnis behalten wird. Dabei werden auch Zusammenhänge zwischen den Aussagen in den Sätzen, über Sätze und über den Text hinweg sowie zu dem vorhandenen Wissen hergestellt wie auch Schlussfolgerungen abgeleitet, etwa zu nicht explizit im Text genannten Details oder zu Aussagen „zwischen den Zeilen“. Schließlich entsteht im Kopf der Lesenden ein stimmiges Gesamtbild vom Inhalt des Texts, das auch „Mentales Modell“ oder „Situationsmodell“ genannt wird.
Welche Rolle spielt Vorwissen beim Gesamtbild, das wir uns von einem Text bauen?
Das Mentale Modell von einem Text entsteht immer in einem Wechselspiel zwischen den Informationen im Text und dem Wissen und persönlichen Erfahrungen der oder des Lesenden. Dieses Wissen und vorhandene Erfahrungen spielen bei den verschiedenen genannten Prozessen eine wesentliche Rolle: Sie bilden unter anderem die Grundlage, die Bedeutung von mehrdeutigen Wörtern, Aussagen oder implizit im Text enthaltenen Informationen zu erschließen, zu interpretieren, anzureichern oder zu bewerten. Schließlich malen sich Lesende die im Text dargestellten Landschaften, Situationen und Figuren unter Rückgriff auf ihr Wissen, ihre Erfahrungen und ihre Vorstellungskraft im Kopf aus.
Wo ist sich die Forschung weniger einig als bei den allgemeinen Prozessen des Lesens?
Für die Prozesse, die speziell bei literarischen Texten im Kopf ablaufen, gehen die wissenschaftlichen Annahmen weiter auseinander. Zentral ist die Annahme, dass das literarische Lesen, etwa von Romanen, erfordert, die Perspektiven von literarischen Figuren einzunehmen. Anderen Annahmen zufolge ist das Eintauchen in die Handlung einer Geschichte, was auch als „Transportation“ bezeichnet wird, ein Kernmerkmal des Lesens von Romanen. Bisherige Befunde deuten darauf hin, dass sich Personen in ihren Fähigkeiten zur Transportation und zur emotionalen Perspektivenübernahme beim Lesen literarischer Texte unterscheiden und diese eng mit ihrer Lesefreude zusammenhängen. Dies bei Kindern zu untersuchen und somit auch nützliche Hinweise zur Förderung ihrer Lesefreude zu finden, ist ein Schwerpunkt der Analysen im Projekt „LitSpatz“: Wir bieten den Kindern verschiedene Gelegenheiten, die Perspektiven von literarischen Figuren einzunehmen und in eine Geschichte einzutauchen und untersuchen, inwiefern ihnen das – bei der Nutzung der verschiedenen Varianten der App – gelingt und Freude bereitet.
Abgesehen von der Transportation: Entwickeln sich Kinder, die gerne und viel lesen, anders als jene, die selten oder vielleicht sogar gar nicht lesen?
Große Studien für verschiedene Altersgruppen belegen immer wieder, dass Kinder und Heranwachsende, denen Lesen Freude bereitet, häufiger lesen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen, die weniger gern und nicht häufig lesen, zeigen sich bei ihnen deutliche Vorsprünge im Wortschatz und in der Leseflüssigkeit. Sind diese gut ausgebildet, laufen die basalen Leseprozesse zunehmend automatisch ab, Lesen fällt leichter, Gedächtniskapazitäten werden frei und immer komplexer und vielschichtiger werdende Inhalte können verstanden werden. Das folgende Lesen erweitert wiederum den Wortschatz und das Wissen der Lesenden, welche die Auseinandersetzung mit weiteren Texten unterstützen. Kurzum: Wortschatz, Leseflüssigkeit, Wissen und Lesefähigkeiten nehmen umso schneller zu, je lieber und mehr Heranwachsende lesen. Hierbei ist jedoch hervorzuheben, dass sich diese Vorteile vorwiegend beim Lesen von literarischen Texten, wie etwa Geschichten, zeigen, insbesondere im Vergleich mit beispielsweise dem Lesen von Sprachnachrichten in sozialen Medien. Gute Lesefähigkeiten unterstützen schließlich die weitere persönliche und schulische Entwicklung. So zeigen die Befunde vorangegangener Studien, dass die Lesefähigkeiten von Heranwachsenden eng mit ihren schulischen Leistungen in verschiedenen Fächern zusammenhängen, dass beispielsweise eine höhere Lesekompetenz in jüngeren Jahrgangsstufen mit höheren Fähigkeiten in Mathematik in späteren Jahrgängen einhergeht.
Würden Sie sagen, dass Lesen gesünder ist als Fernsehen zu schauen?
Dass Lesen prinzipiell „gesünder“ ist, als TV-Sendungen anzusehen, kann man aus Forschungssicht nicht sagen. Welche Medien beim Konsum mehr fordern, fördern, bilden, den Kopf trainieren und damit vielleicht „gesünder“ sind, hängt vor allem davon ab, was wir lesen oder ansehen und wie wir das tun. Nimmt man das Ansehen einer Serie als Beispiel und vergleicht das mit dem Lesen des dazu erschienenen Buches, ohne die Serie jemals gesehen zu haben, ist davon auszugehen, dass Lesen mehr erfordert als Ansehen: Über das Durchlaufen der vorhin genannten grundlegenden Verarbeitungsprozesse – zum Beispiel Buchstaben erkennen, Wörter identifizieren und ihnen eine Bedeutung zuordnen – hinaus, muss beim Lesen die Handlung im Text, mitsamt der beteiligten Figuren, im Kopf selbst inszeniert werden. Vergleichbar der Regisseurin der Serie, inszenieren Lesende die Handlung und die darin auftretenden Figuren, einschließlich ihrer Motive, Gefühle, Ansichten und ihres Wissens, sowie die Kulisse der Geschichte im Kopf. Was in TV-Serien – in den Landschaften, Situationen, Abläufen, Perspektiven, Figuren mit all ihren sicht- und/oder hörbaren Eigenschaften – visuell und akustisch dargestellt ist, muss beim Lesen in Passung zu dem Text gedanklich konstruiert, erschlossen oder hinzugedacht werden. Im Vergleich zum Ansehen stellt das Lesen von Geschichten daher höhere Anforderungen an die Konsument*innen.
Zusammenfassend: Ist Lesen wichtig für uns?
Lesen kann im Laufe der Entwicklung die Verbesserung verschiedener Fähigkeiten unterstützen. Darüber hinaus ist Lesekompetenz der Schlüssel, um sich Wissen aneignen, sich über alltagsrelevante Themen informieren oder sich an literarischen Werken erfreuen zu können. Eine hohe Lesekompetenz im Erwachsenenalter eröffnet damit den Zugang zu Wissen, Informationen und kulturellen Inhalten, welche die Grundlagen dafür sind, verschiedene persönliche Ziele in privaten oder beruflichen Lebensbereichen zu erreichen. Entsprechend zeigen internationale Vergleiche, wie beispielsweise die Studie PIACC, dass Personen mit einer hohen Lesekompetenz, im Vergleich zu Personen mit geringen Lesefähigkeiten, deutlich bessere Chancen auf einen Job und höhere Stundenlöhne haben und überwiegend über einen besseren Gesundheitszustand, ein höheres Gerechtigkeitsempfinden und eine stärkere soziale Teilhabe berichten. Kurzum: Personen mit höherer Lesekompetenz sind auch nach verschiedenen Indikatoren von Lebensqualität im Vorteil. Lesekompetenz ist damit eine wichtige Grundlage für ein selbstbestimmtes, verantwortungsvolles, zufriedenes, gesundes und erfülltes Leben in unserer Gesellschaft und globalisierten Welt.
Vielen Dank für das Interview!
Weitere Informationen zum virtuellen literarischen Spaziergang gibt es unter: https://blog.uni-bamberg.de/forschung/2023/virtueller-spaziergang/