Antisemitismusprävention im Klassenzimmer

Die Rolle von Schulen und Universitäten | aus uni.kat 2024

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  • Forschung
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  • 10.10.2024
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  • Hannah Fischer
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  • Lesedauer: 8 Minuten

Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem, das auch vor Schulen nicht Halt macht. Bamberger Forschung gibt Hinweise darauf, dass Lehrkräfte im Umgang mit judenfeindlichen Vorkommnissen bisweilen überfordert sind – gar Angst vor der Konfrontation haben. Als Teil der Gesellschaft und Lehrkräftebildungsstätte ist es Aufgabe der Universitäten, sich dem anzunehmen. Die Universität Bamberg hat das Zertifikat Antisemitismuskritische Bildung entwickelt, um zukünftige Lehrkräfte besser zu wappnen.

Schulen sind Orte der Vielfalt. Die Heterogenität umfasst eine Vielzahl von Dimensionen – etwa verschiedene kulturelle und ethnische Hintergründe, sozioökonomische Unterschiede, sprachliche und religiöse Vielfalt oder auch unterschiedliche kognitive und körperliche Fähigkeiten. Diese Heterogenität kann wertvolle Bereicherung und Herausforderung zugleich sein. Das Thema beschäftigt nicht nur die Schulen selbst, sondern unter anderem im Sinne der Lehrkräftebildung auch die Universitäten. Die Sprecherin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bamberg (ZLB) Prof. Dr. Theresa Summer betont: „In unserer Arbeit ist es uns ein zentrales Anliegen, Aufgeschlossenheit und Toleranz zukünftiger Lehrkräfte zu fördern. Dabei steht die Achtung der Menschenrechte im Vordergrund, weshalb wir der Antisemitismusprävention große Bedeutung beimessen. Es ist uns wichtig, dass angehende Lehrkräfte aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen ernst nehmen und für die Konfrontation mit menschenfeindlichen Vorkommnissen an Schulen gerüstet werden. Lehrkräfte müssen in der Lage sein, mit Lernenden in einen Diskurs zu treten, um ein kritisch-reflexives Denken zu fördern.“

Antisemitismus ist Realität an Schulen

Im Kontext der Heterogenität an Schulen sind antisemitische Vorfälle schmerzliche Realität. Für 2023 registrierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – RIAS Bayern 38 antisemitische Vorfälle allein an bayerischen Schulen. Judenfeindlichkeit im Klassenzimmer ist kein neues Phänomen: Ein prominenter Fall, der vergangenes Jahr medial hohe Wellen schlug, war die Flugblattaffäre um Hubert Aiwanger. Einige Wochen vor der Landtagswahl in Bayern deckte die Süddeutsche Zeitung auf, dass der amtierende Wirtschaftsminister und Vizeministerpräsident Bayerns als Schüler im Schuljahr 1986/1987 ein Flugblatt mit unter anderem antisemitischen Inhalten verfasst haben soll.

Prävention muss früh beginnen

Antisemitismus an Schulen ist kein isoliertes Problem, sondern ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Tendenzen. Mit dem Angriff der Hamas auf Israel und den israelischen Militäroperationen im Gaza-Streifen ist der Konflikt in der Region wieder eskaliert. Seither nehmen auch antisemitische Vorfälle in Deutschland zu. In Bayern seien 2023 insgesamt 73 Prozent mehr Fälle dokumentiert worden als noch im Jahr zuvor, meldete RIAS im April 2024. Umso wichtiger ist es, früh mit der Antisemitismusprävention anzufangen, findet Dr. Paula Rüb. Sie hat bis 2023 zu dem Thema bei Prof. Dr. Annette Scheunpflug am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik promoviert. Die Schule sei die letzte Sozialisationsinstanz, die noch eingreifen könne, sodass sich antisemitische Denkmuster nicht verfestigen. „Ich komme aus der Praxis und habe bis 2019 an der Fachakademie für Sozialpädagogik und an Berufsschulen in Nürnberg unterrichtet“, erläutert Paula Rüb. „In den letzten zehn bis 15 Jahren sind mir zunehmend antisemitische Äußerungen von Schülerinnen und Schülern aufgefallen. Das hat mich als Mensch mitgenommen; und als Lehrerin war ich verunsichert, wie ich damit umgehen soll.“ Wie ihr geht es auch anderen Lehrkräften. Forschung zu Judenfeindlichkeit an Schulen und dem angemessenen Umgang damit gibt es zu diesem Zeitpunkt kaum, wie Paula Rüb feststellen musste. Ihre Literaturrecherche blieb damals nahezu ergebnislos. So machte sich die heute 70-jährige studierte Diplompädagogin selbst an die Arbeit.

Wie gehen Lehrkräfte mit Judenfeindlichkeit um?

In ihrer Dissertation, die 2023 veröffentlicht wurde, ging sie der Frage nach, wie Lehrkräfte mit Antisemitismus umgehen. Aus Interviews mit 17 nichtjüdischen und jüdischen Lehrkräften entwickelte sie in ihrer qualitativen Arbeit vier Idealtypen der Auseinandersetzung mit solchen Vorkommnissen: Bei der suspendierten Auseinandersetzung entziehen sich die Lehrkräfte der Auseinandersetzung mit den Schülerinnen und Schülern, indem sie den Vorfall negieren, bagatellisieren oder die Verantwortung beispielsweise an die Schulleitung abgeben. Die restriktive Auseinandersetzung ist dadurch gekennzeichnet, dass Lehrkräfte eine dialogische Auseinandersetzung vermeiden, indem sie sie untersagen. Die gesellschaftlich normierte Auseinandersetzung zeichnet sich dadurch aus, dass lediglich eine inhaltlich curriculare beziehungsweise eine standardisierte Auseinandersetzung stattfindet. Bei der situationsbezogenen Auseinandersetzung stellen sich Lehrkräfte judenfeindlichen Vorkommnissen direkt und gehen auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ein. Gemein ist allen Typen die Brisanz des Themas Antisemitismus: Alle interviewten Lehrkräfte waren sich der Problemhaftigkeit bewusst; im Bewusstsein dieser Brisanz positionierten sie sich jedoch unterschiedlich dazu.

Lehrkräftefortbildungen evidenzbasiert gestalten

Nur bei einem der vier Orientierungsmuster – nämlich der situationsbezogenen Auseinandersetzung – handelt es sich um ein dem Problem pädagogisch angemessenes Verhalten, ordnet Paula Rüb ein. Die Ergebnisse findet sie selbst erschreckend: „Ich bin davon überzeugt, dass ein Teil der Interviewpartnerinnen und -partner wirklich gewillt war, sich in solch einer Situation gut zu verhalten. Ich habe nicht erwartet, dass die Verunsicherung, die teilweise schon eher in Richtung Angst geht, bei dem Thema so groß ist.“ Ihre hypothesenbildende Forschung, die erste Anhaltspunkte bietet, welche Muster sich bei Lehrkräften im Umgang mit Antisemitismus zeigen, sieht sie erst als Anfang. Paula Rüb hofft, dass sich eine quantitative Arbeit anschließt: „Wenn wir wissen, wie die Typen der Auseinandersetzung quantitativ verteilt sind, könnte man auf dieser Erkenntnis aufbauend die Lehrkräfteausbildung und -fortbildungen entsprechend ausrichten“.

Antisemitismus führt zu Spaltung der Gesellschaft

Angesetzt werden muss also auch an den Universitäten, die wie in Bamberg für die Lehrkräfteausbildung zuständig sind. Paula Rüb arbeitet eng zusammen mit Dr. Caroline Rau, Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik. Sie setzt sich in ihrer Forschung unter anderem mit Demokratiebildung und -erziehung auseinander und bietet Seminare zum Umgang mit Antisemitismus in pädagogischen Handlungsfeldern an. „Antisemitismus ist nur ein Aspekt von vielen, etwa neben Rassismus, die zu einer Spaltung der Gesellschaft führen“, sagt Rau. Demokratieerziehung habe demnach mehrere Dimensionen – Antisemitismusprävention sei eine davon. Insbesondere Lehramtsstudierende lernen in ihren Seminaren zum Beispiel, wie sie damit an Bildungseinrichtungen angemessen umgehen können und wie sie schon im Vorfeld präventiv agieren können.

Antisemitismusprävention an Lebensrealität ausrichten

„Bei meiner Arbeit mit Studierenden und bei Fortbildungen mit Lehrkräften ist mir aufgefallen, dass viele Teilnehmende gar nicht wissen, wofür sich Kinder und Jugendliche interessieren und an welchen Stellen sie mit Antisemitismus in Berührung kommen“, sagt Rau. Das könne zum Beispiel bei Songs aus der Rapszene der Fall sein, die sie in ihrem Alltag hören. Antisemitismusprävention müsse an den Schulen aber genau dort ansetzen: nah an der Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler. Wichtig ist ihr außerdem, dass sich pädagogisches Personal emotional und psychisch dafür wappnet, dass es reagieren muss und kann, insbesondere wenn ein Vorfall auftritt. Dazu forscht Rau: „Alle sind sich einig: Es darf keinen Antisemitismus geben. Aber Lehrkräfte müssen von dieser Aussage ausgehend ein positives Gegenbild demokratiebezogener Werte entwerfen, an denen sie entsprechende Erziehungsziele, konkrete Handlungsschritte und pädagogische Konzepte orientieren. Meine Untersuchungen zeigen, dass diese Aspekte für Lehrkräfte im Kontext von Antisemitismusprävention und -intervention besonders herausfordernd sind.“ Ihre Forschungserkenntnisse fließen in Lehrkräftefortbildungen und die Lehramtsausbildung in Bamberg ein. Gerade die Lehramtsausbildung sei stark disziplinär ausgelegt in Deutschland. „Antisemitismus ist jedoch ein Querschnittsthema, das interdisziplinär bearbeitet werden muss“, findet Rau.

Neues Zertifikat an der Universität Bamberg

Hier setzt eine neue Initiative an der Universität Bamberg an: Prof. Dr. Kathrin Gies, Inhaberin des Lehrstuhls für Alttestamentliche Wissenschaften, hat gemeinsam mit ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Jana Hock und weiteren Universitätsangehörigen das Zertifikat Antisemitismuskritische Bildung entwickelt, das zum Wintersemester 2024/25 startet. In unterschiedlichen Seminaren sollen Studierende Expertise in dem Bereich entwickeln, aber auch beispielsweise Wissen über das Judentum erwerben. Haben die Studierenden genügend ECTS-Punkte gesammelt, wird ihnen ein entsprechendes Zertifikat als Nachweis ausgestellt. Mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern steht Gies bereits in Kontakt. Sie wollen Lehrveranstaltungen zum Zertifikat beitragen. Mit dabei sind neben der Katholischen und Evangelischen Theologie beispielsweise die Fächer Pädagogik, Judaistik, Anglistik, Germanistik, Romanistik, Slawistik und Psychologie. Primäre Zielgruppe des Zertifikats sind Lehramtsstudierende, aber auch alle anderen interessierten Studierenden. „Schulen gelten als Brennglas der Gesellschaft“, sagt Kathrin Gies. Gerade bei Kindern und Jugendlichen zeige sich noch ungefilterter, was vielleicht an anderer Stelle tabuisiert werde und deshalb nicht öffentlich zu Tage trete. „Lehrkräfte müssen kompetent sein, um mit antisemitischen Vorkommnissen adäquat umzugehen – oder im besten Fall präventiv in ihren Klassen Aufklärung leisten, damit es gar nicht erst zu Antisemitismus kommt“, erläutert Gies. Die Stärke des Zertifikats sieht sie vor allem im interdisziplinären Ansatz, weil dadurch die Komplexität des Problems und die Notwendigkeit von fächerübergreifendem Wissen und Kompetenzen sichtbar werde.

Lehramtsstudierende profitieren für berufliche Zukunft

Anna Pistner studiert die Fächer Katholische Religionslehre, Englisch und Italienisch für Lehramt an Gymnasien. Sie hat sich im Rahmen ihres Studiums im Wintersemester 2023/24 intensiv mit Antisemitismusprävention befasst. Sie besuchte regelmäßig das Theologische Forum, das sich der Antisemitismuskritik mit insgesamt fünf Vorträgen widmete, sowie das Begleitseminar dazu. Im Rahmen eines Projektmoduls am Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaften hat sie zudem eine Ausstellung zum Thema Antisemitismus erarbeitet, die in der Teilbibliothek 1 zu sehen war. „Auch wenn mich diese Form der Diskriminierung nicht selbst direkt betrifft, ist es für mich ein bedrückendes Thema“, sagt sie. Antisemitismus sei im Alltag sehr präsent, was vielen gar nicht bewusst sei. Antisemitismus gebe es nicht nur in extremen Gruppierungen – es gebe ihn auch in der Mitte der Gesellschaft. „Mir ist erst während des Projekts aufgefallen, dass ich selbst nicht klar wusste, was Antisemitismus ist und wie viel indirekten Antisemitismus es im Alltag gibt.“ Schon in der deutschen Sprache sei dieser verankert. „Ich würde mich selbst nicht als eine Person bezeichnen, die je antisemitisch gedacht oder entsprechende Äußerungen getätigt hat. Aber ich glaube nicht, dass ich vor dem Projekt besonders sensibel für die Thematik war – vor allem für Nuancen, die nicht so offensichtlich sind.“ Aus ihrem Projekt nimmt sie viel für ihren späteren Beruf als Lehrerin mit: „Ich bin jetzt sensibler für Antisemitismus. Ob ich in meinem späteren Beruf in jeder Situation angemessen auf Judenhass reagieren kann, weiß ich nicht. Aber ich habe für mich vor allem mitgenommen, dass ich den Mut haben will, etwas zu sagen, wenn ich antisemitische Vorfälle und Aussagen mitbekomme.“ Das Zertifikat soll Studierenden wie Anna Pistner zu Gute kommen.

Zertifikat passt zu Selbstverständnis der Universität

„Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem. Und alles, was in der Gesellschaft virulent ist, gehört auch an die Universitäten und sollte Gegenstand von Forschung und Lehre sein“, sagt Prof. Dr. Sabine Vogt, Vizepräsidentin für Diversität und Internationales und selbst ehemalige Sprecherin des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Einerseits müsse sich die Universität mit Antisemitismus als gesellschaftlichem Phänomen auseinandersetzen. Andererseits mache Antisemitismus auch vor Universitäten selbst nicht Halt. „Die Universität Bamberg versteht sich als ein Ort gelebter Vielfalt und steht dafür ein, ihren Angehörigen eine weltoffene, tolerante, diskriminierungsfreie und sichere Umgebung für Forschung, Lehre und Arbeit zu bieten.“ Das geplante Zertifikat Antisemitismuskritische Bildung füge sich in dieses Selbstverständnis ein. Die Universität nehme damit zudem ihre Verantwortung wahr, die Gesellschaft mitzugestalten und auf demokratischer Grundlage Ideen für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen zu entwickeln und umzusetzen.

Zertifikat Antisemitismuskritische Bildung:

Zum Wintersemester 2024/25 können Studierende der Universität Bamberg zum ersten Mal Kurse belegen, die sie sich für das Zertifikat Antisemitismuskritische Bildung anrechnen lassen können. Es steht ihnen dabei ein breites Lehrangebot zahlreicher Fächer wie etwa der Katholischen und Evangelischen Theologie, Pädagogik, Judaistik oder Romanistik zur Verfügung.

Alle Informationen rund um das Zertifikat, seine Rahmenbedingungen und konkrete Module sind zu finden auf den Seiten des Zentrums für Schlüsselkompetenzen (ZSK): www.uni-bamberg.de/babt/schluesselkompetenzen/angebote-fuer-studierende/zertifikat-antisemitismuskritische-bildung/

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Seite 167943, aktualisiert 10.10.2024