Dominant oder empathisch?

Soziale Herkunft und Geschlecht gemeinsam in den Fokus nehmen | aus uni.vers Forschung 2024

Treppenstufen
  • Forschung
  •  
  • 17.10.2024
  •  
  • Jessica Röhner, Astrid Schütz
  •  
  • Lesedauer: 7 Minuten

Alle Menschen starten mit bestimmten Voraussetzungen ins Leben, die zusammenwirken und in der Folge zu Mehrfachdiskriminierung führen können. Soziale Herkunft und Geschlecht beeinflussen häufig, ob und was junge Erwachsene studieren wollen und werden. Sie wirken auch auf das Verhalten und beeinflussen beispielsweise, ob Personen eher zielstrebig und ehrgeizig oder sozial orientiert sind. Diese Eigenschaften fasst man als Agency und Communion zusammen und assoziiert sie mit Erfolg in Studium und Beruf.

Menschen gehören gleichzeitig verschiedenen Gruppen an. So identifiziert sich eine Person möglicherweise als Frau, als Europäerin, als Erstakademikerin, als Mensch mit Behinderung und so weiter. Das Zusammentreffen solcher Vielfaltsdimensionen kann die Effekte einzelner Dimensionen verstärken. Intersektionalität, abgeleitet vom englischen intersection – Kreuzung bezeichnet die Idee, dass sich mindestens zwei Diskriminierungspfade treffen. Entsprechende Forschung befasst sich mit den vielfältigen Dimensionen von Identität und sozialen Systemen sowie deren Zusammenwirken und den damit verbundenen Ungleichbehandlungen auf Basis von Phänomenen wie Rassismus, Genderismus, Heterosexismus, Altersdiskriminierung sowie Klassismus. Etwa zeigen Studien, dass es für Frauen schwerer als für Männer ist, im Fach Physik Karriere zu machen. Latinas und Schwarze Frauen erleben dabei jedoch noch größere Hürden als andere. In diesem Beispiel zeigt sich Mehrfachdiskriminierung. Der Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik befasst sich mit den Dimensionen soziale Herkunft und Geschlecht sowie deren Wechselwirkung und Einfluss auf Persönlichkeitseigenschaften.

Soziale Herkunft

Soziale Herkunft beschreibt die sozioökonomische Gruppe, zu der ein Individuum gehört. Durch die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe erlebt es materielle und immaterielle Möglichkeiten und Grenzen wie Zugang zu Vermögen oder Zugang zu Bildung. Definiert wird soziale Herkunft typischerweise über Variablen wie Bildungsstand, Einkommen, Macht und Prestige.

Soziale Herkunft ist mit spezifischen Stressoren verbunden. Studien zeigen etwa, dass schlechtere sozioökonomische Bedingungen in der Familie mit häufigeren Erfahrungen von Feindseligkeit und Diskriminierung in Zusammenhang stehen. Armut ist zudem mit schlechterer physischer Gesundheit assoziiert. Sie erhöht das Risiko für Koronar- und Krebserkrankungen – und wenn Personen aus wenig wohlhabenden Verhältnissen schwer erkranken, haben sie schlechtere Überlebenschancen. Auch beeinflusst die soziale Herkunft einer Person ihren Bildungserfolg. Daten des Nationalen Bildungspanels zeigen, dass Nachkommen aus Familien mit akademischem Bildungshintergrund häufiger als andere ein Studium abschließen und promovieren.

Geschlecht und geschlechtliche Identität

Unterschieden wird zwischen dem biologischen Geschlecht Sex, welches meist bei der Geburt zugewiesen wird, und dem sozialen Geschlecht Gender, also der gesellschaftlich geprägten Geschlechterrolle, die etwa die Erwartung beinhaltet, dass Männer durchsetzungsfähig und Frauen verträglich sind. Das soziale Geschlecht variiert über Kulturen und die Zeit. Die Geschlechtsidentität Gender Identity beschreibt das subjektive Erleben einer Person als weiblich, männlich oder non-binär.

Geschlecht und geschlechtliche Identität beeinflussen menschliches Verhalten auf vielfältige Weise. Etwa wurde gezeigt, dass Männer in Kommunikationssituationen typischerweise mit größerer interpersoneller Distanz agieren und seltener als Frauen Augenkontakt und Berührungen nutzen. Frauen lächeln hingegen mehr und sind nonverbal expressiver. Auch ist diese Vielfaltsdimension mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Im Arbeitsleben ist weiterhin ein Lohngefälle zu beobachten. Durch die Gender Pay Gap erhalten Frauen im Schnitt sechs Prozent weniger Gehalt als Männer, selbst wenn sich Qualifikation, Tätigkeit und Erwerbsbiografie nicht unterscheiden.

Agency und Communion: Ellenbogen oder Mitgefühl zeigen

Am Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik wird das Zusammenwirken von sozialer Herkunft und Geschlecht auf die Merkmale Agency und Communion untersucht. Agency umfasst Kompetenzen, die für die Kontrolle von Umgebungsfaktoren und das Erreichen eigener Ziele relevant sind, beispielsweise Ehrgeiz und Leistungsbereitschaft. Communion beschreibt Eigenschaften, die für den Aufbau und die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen relevant sind wie Freundlichkeit und Fairness. Längsschnittstudien konnten zeigen, dass Jugendliche, die sich hohe Agency zuschreiben, später bessere Studienleistungen hatten. Communion ist dagegen eher negativ mit typischen Erfolgsindikatoren assoziiert. So zeigen Studien, dass sich Beschreibungen kommunaler Eigenschaften in Empfehlungsschreiben negativ auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, eingestellt zu werden.

Agency und Communion sind wiederum mit den Vielfaltsdimensionen soziale Herkunft und Geschlecht verbunden. So beschreiben sich Personen mit höherem sozioökonomischem Status als agentischer als andere. Demgegenüber sind Menschen unter schwierigen Bedingungen besonders motiviert, sich mit anderen zu vernetzen, was nahelegt, dass ein geringerer sozioökonomischer Status mit höherer Ausprägung in Communion einhergehen dürfte.  Weiter haben Männer meist höhere Ausprägungen in Agency und niedrigere Ausprägungen in Communion. Das Bild für Frauen ist umgekehrt.

Ansatzpunkte zur gezielten Förderung mehrfach benachteiligter Gruppen

In einem aktuellen Forschungsprojekt wertet das Team Daten von mehr als 1.400 Studierenden verschiedener Fachrichtungen an deutschen Universitäten aus. Aufgrund der für entsprechende Analysen benötigten Stichprobengröße gehen aktuell nur Daten selbst identifizierter Frauen und Männer in die Gesamtanalysen ein. Die Daten von Personen, die sich als divers identifizieren, werden jedoch explorativ ausgewertet.

Mit dem statistischen Verfahren der Strukturgleichungsmodellierung wird das komplexe Zusammenwirken von sozialer Herkunft und Geschlecht auf Agency und Communion untersucht. Erwartet wird einerseits, dass Studierende aus Elternhäusern mit höherem Bildungsstand besonders hohe Ausprägungen in Agency aufweisen, wohingegen Studierende aus Elternhäusern mit geringerem Bildungsstand besonders hohe Ausprägungen in Communion aufweisen dürften. In beiden Gruppen wird zudem erwartet, dass Frauen jeweils höhere Werte in Communion und Männer höhere Werte in Agency haben. Weiterhin wird erwartet, dass das Geschlecht den Einfluss von sozialer Herkunft auf Agency und Communion moderiert, dass also Studentinnen im Vergleich zu Studenten in Sachen Agency besonders stark von höherem Bildungsstand im Elternhaus profitieren, da sie aufgrund ihres Geschlechts ein geringeres Ausgangsniveau haben. Umgekehrt sollten Studenten besonders stark von höherem Bildungsstand im Elternhaus profitieren, wenn es um Communion geht, was ebenfalls auf ihr jeweiliges Ausgangsniveau zurückzuführen ist.

Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Einfluss sozialer Herkunft auf Agency geschlechterabhängig ist und Studentinnen stärker als Studenten vom Bildungsstand ihrer Eltern profitieren. Unabhängig vom Geschlecht ist höherer elterlicher Bildungsstand jedoch mit geringeren Communion-Werten der Studierenden verbunden. Diese und weitere Ergebnisse können helfen, Ansatzpunkte zur gezielten Förderung erfolgsrelevanter Merkmale bei potentiell mehrfach benachteiligten Gruppen zu ermitteln.

nach oben
Seite 167574, aktualisiert 17.10.2024