Essstörungen sind ernsthafte psychische Erkrankungen. Dennoch werden sie oft als Frauenkrankheiten oder Lifestyle-Problem bagatellisiert und stigmatisiert – mit hohen Kosten für Betroffene anderen Geschlechts oder Hintergrunds und Gesellschaft. Der Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Bamberg bemüht sich daher um den Gegenentwurf einer diversitätssensiblen Forschungs- und Behandlungspraxis, um Betroffene in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit sichtbar zu machen und ihnen optimale Hilfe zuteil werden zu lassen.
Woran denken Sie, wenn Sie an den Begriff Essstörungen denken? Nach einem kurzen Schulterzucken erhält man auf diese Frage üblicherweise Antworten wie „junge Frauen“, „Schlankheitswahn“, „so ein Lifestyle-Problem“ oder „Generation Instagram“. Es wird jedoch schnell deutlich, dass diese Vorstellung zu kurz greift. Essstörungen sind psychosomatische Erkrankungen, die sich durch ein verändertes Essverhalten, eine verzerrte Körperwahrnehmung, exzessives Bewegungsverhalten und auffälliges Über- oder Untergewicht auszeichnen. Zudem sind sie für Betroffene oft mit großem Leidensdruck verbunden. Essstörungen können sich in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen zeigen. Zu den näher definierten Essstörungen zählen die Anorexia nervosa („Magersucht“), Bulimia nervosa („Ess-Brech-Sucht“) und die Binge-Eating-Störung („Ess-Sucht“), wenngleich diese Begriffe mitunter irreführend sind, da beispielsweise keinesfalls alle Betroffenen mit Bulimia nervosa erbrechen. Darüber hinaus bestehen weitere Formen und Mischformen von gestörtem Essverhalten.
Essstörungen als ernsthaftes Gesundheitsproblem
Betroffenen wird oft unterstellt, dass sie ihr Verhalten selbst kontrollieren und leicht verändern könnten und damit die Erkrankung von geringer Schwere sei. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Essstörungen sind komplexe, oft chronische Erkrankungen, die mit einer hohen Sterblichkeit einhergehen. Im Falle der Anorexia nervosa handelt es sich gar um die psychische Störung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Zehn Prozent der Betroffenen versterben innerhalb eines Zehnjahreszeitraums. Dies entspricht bei Frauen einer gegenüber allen anderen Todesursachen zwölffach erhöhten Sterblichkeitsrate. Essstörungen führen bei Betroffenen und deren sozialem Umfeld zu massivem Leid und gehen mit hohen Kosten für das Individuum und das Gesundheitssystem einher.
Gender und sexuelle Orientierung bei Essstörungen
Ähnlich steht es um die Stereotypisierung von Essstörungen als „Frauenkrankheit“. Tatsächlich besteht in der Wissenschaft Einvernehmen darüber, dass Essstörungen Personen aller Geschlechter, Altersgruppen, aller sexuellen Orientierungen, ethnischen und sozioökonomischen Hintergründe betreffen. Neuere Studien weisen darauf hin, dass Essstörungen bei Angehörigen geschlechtlicher und sexueller Minderheiten (LGBT*Q) sogar gehäuft auftreten. Auch steigt seit einigen Jahren der Anteil der Betroffenen unter Männern stärker als unter Frauen an, wenngleich Frauen weiterhin häufiger an einer Essstörung erkranken. Entgegen der Idee der Frauenkrankheit werden Essstörungen in der Forschungsliteratur bisweilen als „the most gendered of all disorders“ – also als die geschlechtsspezifischste aller Störungen – beschrieben. Zwischen Essverhalten und Körperbild bestehen enge Zusammenhänge. Auf das Körperbild eines Menschen wirken zahlreiche soziokulturelle Faktoren wie soziale Rollenerwartungen, Vorstellungen über Weiblichkeit und Männlichkeit sowie geschlechtsbezogene Schönheitsideale. So weisen beispielsweise auch Studien zu Essstörungen bei LGBT*Q-Personen auf einen verstärkten sozialen Druck in diesen Gruppen hin, gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich des äußeren Erscheinungsbilds zu entsprechen. Es lässt sich also die Frage stellen, was es mit Betroffenen macht, wenn soziale Prozesse auf sie einwirken und ihre Erkrankung als „weiblich“, „selbstgewählt“ oder „Lifestyle-Problem“ gedeutet wird. Dies führt zum Thema Stigmatisierung.
Stigmatisierung als Verständnis- und Behandlungshürde
Unter Stigmatisierung wird die Zuschreibung einer gesellschaftlich oder gruppenspezifisch negativ bewerteten Eigenschaft zu einer Person oder einer Gruppe durch andere verstanden – beispielsweise „Alle Menschen mit Essstörung sind für ihre Erkrankung selbst verantwortlich“. Stigma zeigt sich dabei meist kognitiv (stereotype Einstellungen und Meinungen), affektiv (Vorurteile mit negativer emotionaler Reaktion wie Ärger) und in diskriminierendem Verhalten. Auf gesellschaftlicher Ebene spricht man von öffentlicher Stigmatisierung. Betroffene können solche öffentlichen Stereotype jedoch auch verinnerlichen und gegen sich selbst wenden, was als Selbststigmatisierung bezeichnet wird. So kann eine männliche Person mit Essstörung beispielsweise die Meinung annehmen, dass es sich tatsächlich um eine „Lifestyle-Frauenkrankheit“ handele. Starke Schuldgefühle, Scham und letztlich ein vermindertes Selbstwertgefühl können die Folge sein. Stigmatisierung geht dabei immer auch mit Macht einher, da sich die stigmatisierende Person oder Gruppe über das stigmatisierte Individuum erhebt, was dazu führt, dass Betroffene eine reduzierte Selbstwirksamkeit empfinden. Das bedeutet, dass sie weniger davon ausgehen, herausfordernde Situationen aus eigener Kraft bewältigen zu können.
Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen eindrücklich, welche negativen Konsequenzen Stigmatisierung auf von Essstörungen betroffene Personen hat. Betroffene berichten von Gefühlen von Scham und Schuld sowie von starkem Zögern, sich Hilfe zu suchen. Zudem konnte gezeigt werden, dass auch medizinisches Personal nicht frei von öffentlichem Stigma ist und beispielsweise Männer mit Essstörung seltener angemessene Behandlungsempfehlungen erhalten oder deren Symptome durch Behandler:innen verharmlost werden. Die Folge sind höheres individuelles Leid und steigende gesellschaftliche Kosten durch chronifizierte Krankheitsverläufe. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, gegen Stigmatisierung vorzugehen, sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher und institutioneller Ebene, um eine unterstützende Umgebung zu schaffen, in der Menschen mit Essstörungen ohne Vorurteile und in all ihrer Einzigartigkeit Hilfe erfahren können.
Diversitätssensible Forschung und Praxis in Bamberg
Es wird hier also am Beispiel der Essstörungen, welche in besonderer Weise mit geschlechtsbezogenen Rollen- und Körperbilderwartungen einhergehen, stellvertretend für alle psychischen Störungen deutlich, welche negativen Konsequenzen aus Stigmatisierung folgen können. Dies zeigt, dass eine diversitätssensible Forschungs- und Behandlungspraxis dringend erforderlich ist. Kurzum: Diversität muss eine Forschungsdimension (nicht nur) der Klinischen Psychologie und Psychotherapie sein. Der Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Bamberg bemüht sich daher um eine gute Balance bei der entstehenden Gratwanderung. Einerseits soll die aktuelle Forschung sensibel Diversitätsdimensionen berücksichtigen, andererseits muss dies stets derart kritisch reflektiert werden, dass es nicht zum othering kommt, also der Reproduktion sozialer Zuschreibungen und Ausgrenzung durch Überbetonung sozial konstruierter Unterscheidungsmerkmale. Ein Beispiel hierfür ist die aktuelle Studie bodi.versity zum Körperbild bei LGBT*Q-Personen. Hierbei wird neben einer intensiven Berücksichtigung der Dimensionen Gender und sexuelle Orientierung ein Schwerpunkt darauf gelegt, die mit diesen Merkmalen assoziierten sozialen Prozesse zu erfassen, statt bloße Gruppenunterschiede aufzuzeigen. Doch auch die Übertragung eines kritisch-reflexiven Diversitätsverständnisses in die psychotherapeutische Behandlungspraxis ist ein wichtiges Anliegen. In der psychotherapeutischen Hochschulambulanz wird daher großer Wert darauf gelegt, Patient:innen in all ihren vielfältigen Lebenslagen akzeptierend und wertschätzend zu begleiten und dabei die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung ihrer jeweiligen Identität umfassend zu betrachten und gemeinsam zu begreifen.