Wo früher eine römische Stadt mit ihren Monumentalbauten das Kochertal überragte, wurde bis vor kurzem Getreide geerntet. Jetzt beschäftigt die archäologische Zone bei Neuenstadt am Kocher im Landkreis Heilbronn die Forschung: Die Professur für Archäologie der Römischen Provinzen der Universität Bamberg untersucht gemeinsam mit dem Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg im Regierungspräsidium Stuttgart (LAD) seit drei Jahren gemeinsam den Platz, der im Dornröschenschlaf lag, bis er 1989 durch Luftbilder wiederentdeckt wurde. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Projekt mit mehr als 700.000 Euro. Auf der Lehr- und Forschungsgrabung werden ab Montag, 5. August 2024, wieder die Spaten angesetzt. Beteiligt sind neben dem LAD und den Forschenden der Otto-Friedrich-Universität auch Studierende der Universitäten Bamberg, Bonn, Köln, Leipzig, Heidelberg, Tübingen und Würzburg. Interessierte Laien, darunter aktive Mitglieder der Gesellschaft für Archäologie in Württemberg und Hohenzollern e.V., ergänzen ehrenamtlich das Grabungsteam.
Verwaltungsmittelpunkt und religiöses Zentrum
„Die rund 20 Hektar große Siedlung gehört zu den spektakulärsten archäologischen Neuentdeckungen der Römerzeit in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg“, erläutert Prof. Dr. Michaela Konrad von der Universität Bamberg. Sie leitet zusammen mit Dr. Klaus Kortüm vom LAD das Projekt mit dem Titel „Siedeln in dynamischen Räumen: Die ‚Civitas Aurelia G(…)‘ als Modell für Urbanisationsprozesse in römischen Grenzzonen des 2. Jahrhunderts n. Chr.“. Dr. Andrea Faber, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt, ergänzt nach den ersten beiden Grabungskampagnen im zentralen Bereich der Stadt: „Dank der außergewöhnlichen Situation, dass nach Verlassen der Stadt im späten 3. Jahrhundert das Terrain öd fiel und nicht wieder bebaut wurde, finden wir außergewöhnlich gute Erhaltungsbedingungen vor.“ Nach intensiven geoarchäologischen Prospektionen und mehrjährigen Ausgrabungen durch das LAD folgen nun weitere gezielte Forschungen zur Stadtbaugeschichte des Platzes. „Will man ein solches Großprojekt unter Einhaltung zeitgemäßer Standards durchführen, ist das Modell der Kooperation mit der Landesarchäologie die erste Wahl. Auch Transferaktivitäten im Bereich der in Baden-Württemberg seit über 60 Jahren ausgesprochen erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeit können in diesem Rahmen besser, gezielter und mit mehr Resonanz durchgeführt werden“, ergänzt Michaela Konrad.
Die „auf der grünen Wiese“ gegründete römische Siedlung in Neuenstadt war vermutlich der Zentralort eines römischen Verwaltungssprengels (lat. civitas; entsprechend einem Landkreis), der um 160 n. Chr. im Rahmen der Vorverlegung des römischen Limes neu eingerichtet wurde. Mit verschiedenen repräsentativen Großbauten demonstrierte Rom seinen Herrschaftsanspruch auch am entlegensten Platz des römischen Reiches.
Der bis 2013 vom LAD ausgegrabene Tempelbezirk für den römisch-keltischen Licht- und Heilgott Apollo Grannus, dessen wissenschaftliche Auswertung Teil der Forschungskooperation ist, zeigt, dass das römische Neuenstadt zugleich religiöses Zentrum der Civitas und überregionale Anlaufstelle für Pilger war. Aber auch Nutzbauten mit großen Hofanlagen konnten damals im Uferbereich des Kochers untersucht werden. Sie lassen vermuten, dass sich hier ein Flusshafen oder eine kleine Ländestelle befand.
„Die beachtliche Größe der Stadt und ihre monumentale Ausstattung werfen Fragen nach den Initiatoren, Planern und Bewohnern der nach mediterranen Prinzipien auf einem Südhang zum Fluss Kocher hin ausgerichteten Metropole auf“, erläutert Konrad. „Dank der Untersuchungen, die das LAD seit der Entdeckung durchgeführt hat, und der Möglichkeit, diese im Rahmen der Kooperation mit den aktuellen Ausgrabungen zusammenzuführen, können wir wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung und Funktion dieses außergewöhnlichen Platzes gewinnen.“
Was seitdem entdeckt wurde
Im Zentrum der archäologischen Untersuchungen 2022 und 2023 standen zwei Steingebäude mit außergewöhnlichen Grundrissen. Beide lagen in prominenter Lage auf den oberen Hangterrassen. Sie dürften allein aufgrund ihrer Größe von über 50 Meter Seitenlänge als architektonische Marksteine den Stadtraum bestimmt haben.
Ein langrechteckiges Gebäude auf der obersten Terrasse gehört zum Typus repräsentativer Basilikabauten der römischen Nordwestprovinzen. Ein weiterer Großbau mit integrierter Therme war sehr wahrscheinlich Dienstsitz eines hohen römischen Amtsträgers (lat. praetorium) oder ein gehobenes Unterkunftshaus. Wand- und Deckenmalereien belegen die herausragende Funktion des Gebäudes innerhalb der Stadtanlage, dessen Front nach dem Vorbild mediterraner Stadthäuser zur Straße hin mit einer Säulenstellung besonders aufwendig gestaltet war.
Zu den außergewöhnlichen Funden gehören unter anderem ein bronzener Möbel- oder Gerätaufsatz in Granatapfelform und eine qualitätvolle Gemme, die eine tanzende Maenade mit Handtrommel aus dem Gefolge des römischen Weingottes Bacchus zeigt. Für die besondere Bedeutung des Fundplatzes sprechen zudem die kleinteilig fragmentierten Reste von Bronzestatuen, die es erlauben, ein überlebensgroßes Standbild und weitere lebensgroße Statuen, darunter vermutlich auch eine römische Kaiserstatue, zu rekonstruieren.
Diese Fragen gilt es noch zu beantworten
Erst in der Zusammenführung aller bisherigen Forschungen können weiterführende Fragestellungen formuliert werden: Handelt es sich bei der Stadtgründung in Neuenstadt um eine gelenkte Urbanisierungsmaßnahme an der Peripherie des römischen Reiches? Welche Komponenten haben die Ortswahl bestimmt? Wurden bewährte Städtebaumodelle transferiert oder beeinflussten die spezifischen naturräumlichen, zeitpolitischen, strategischen und sozialen Voraussetzungen das Planungskonzept? Wer waren die Siedler, woher kamen sie und wer waren die lokalen Protagonisten? Welche Rahmenbedingungen waren für die Neugründung entscheidend und welche Bedeutung ist dem Kult des Apollo Grannus für die Stadtentwicklung beizumessen? „Mit diesen Fragestellungen sind unsere Forschungen geeignet, das Zusammenwirken von staatlicher Präsenz, lokalen Sozialstrukturen, Kult und Religion und nicht zuletzt Mobilität, Netzwerken und Ökonomie in Grenzräumen des römischen Reiches besser zu verstehen“, sagt Michaela Konrad.
Studentisches Engagement und Kompetenzbildung auf der Grabung
Die Grabungen bieten, neben neuen historischen und archäologischen Erkenntnissen, gerade für die Studierenden einen weiteren Mehrwert: „Auf der Lehrgrabung in Neuenstadt werden wir mit aktuellen Forschungsfragen der Archäologie der Römischen Provinzen vertraut gemacht und in inhaltliche und methodische Diskurse integriert“, sagt Estelle Fischer, die in Bamberg im Bachelorstudiengang Archäologische Wissenschaften mit Schwerpunkt Archäologie der Römischen Provinzen studiert und im Sommer 2024 bereits zum dritten Mal an der Grabung teilnehmen wird. „Die Teilnahme an der Ausgrabung bietet aufgrund der Kooperation mit dem Landesamt für Denkmalpflege darüber hinaus die Möglichkeit, verschiedene moderne Grabungs- und Dokumentationstechniken kennenzulernen und kombiniert anzuwenden. Ein besonderer Pluspunkt ist auch, dabei die Anforderungen einer Tätigkeit in einer Denkmalpflegebehörde kennenzulernen", sagt Estelle Fischer. "Während der mehrwöchigen Mitarbeit bei der Grabung in Neuenstadt durchläuft man alle Stationen der modernen Feldarchäologie: von der Prospektion über die Verwendung unterschiedlichster Werkzeuge und Geräte im Grabungseinsatz bis hin zur sachgerechten Behandlung der Funde und ihrer Vorbereitung für die Katalogisierung, Verwahrung und Restaurierung. Die Praxiserfahrung und Methodenvielfalt sind wesentliche Bausteine, um sich zukünftigen Aufgaben im archäologischen Berufsleben stellen zu können.“