Taylor Swift ist eine Künstlerin der Superlative. 14 Grammy Awards hat sie bislang eingeheimst, ihr Konzertfilm The Eras Tour gilt als der umsatzstärkste aller Zeiten, auf Instagram folgen ihr 283 Millionen Menschen. Doch trotz dieser langanhaltenden enormen Popularität erobert Miss Americana die Wissenschaft erst jetzt. Der Literatur- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Jörn Glasenapp leistet dabei Pionierarbeit und gibt im uni.kat-Interview Einblicke in das komplexe Taylorverse.
Lieber Herr Glasenapp, zum Einstieg eine Frage, die Ihnen sicherlich noch niemand gestellt hat: Was ist Ihr Lieblingslied von Taylor Swift?
Jörn Glasenapp: Zurzeit ist es Maroon aus dem Album Midnights.
Warum?
Es ist musikalisch, textlich und von der Produktion her fantastisch. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei Taylor Swift, der Sound der Alben. Sie klingen einfach unglaublich gut. Und Maroon ist so ein Meisterwerk des Klangs.
Was fasziniert Sie so an Taylor Swift, dass Sie begonnen haben, über sie zu forschen?
Das Album Midnights hat mich regelrecht geflasht. Diese Kombination aus Komposition – klassisch, eingängig, unverkennbar –, ihrem nah am Sprechen operierenden Gesang, dem warmen, verhuschten Sound und ihren Lyrics ist einzigartig: Raffinierte Sprachbilder, bewusst gesetzte Leerstellen, Ambivalenzen. Die Texte enthalten viele Merkmale, die wir beispielsweise in der Literaturwissenschaft guter Lyrik zuschreiben würden.
Eine Besonderheit von Taylor Swift ist, dass sie mit ihrer Musik einen Resonanzraum schafft, in dem sich Menschen aus völlig unterschiedlichen Kontexten wiederfinden können. Diese vielfältigen Lesarten sind vermutlich auch gewünscht?
Absolut. Taylor Swift nimmt die Sichtweisen ihrer Fans sehr genau wahr. Sie weiß, welche Interpretationsspielräume ihre Formulierungen eröffnen und kann diese somit bewusst triggern. Sie arbeitet auch hier nicht explizit, sondern mit teils sehr dezidierten Andeutungen, die sie selbst immer wieder aufgreift. Gemeinsam mit ihren Fans schafft sie durch diese Rückbezüge und Querverweise ein ausgeklügeltes, weit übers Musikalische hinausgehendes System, das sich stetig neu erfindet und sich dabei im Kern doch treu bleibt.
Wie darf ich mir solche Verweise vorstellen?
Auf einem Konzert schrie eine junge Frau in der zweiten Pause des Songs Delicate die Worte „One, two three, let's go, bitch“. Taylor Swift hat das natürlich nicht gehört, aber die junge Frau hat sich dabei aufgenommen und das Video bei Twitter hochgeladen. Es ging sogleich viral. Mittlerweile schreien das viele Fans bei den Konzerten an genau dieser Stelle und Taylor Swift zählt dazu mit den Fingern bis drei. Alle haben also die Möglichkeit, am dynamischen und unkontrollierbaren Taylorverse, an der Welt von Taylor Swift und ihren Fans, mitzuarbeiten.
Welche Aspekte aus dem Taylorverse interessieren Sie in Ihrer Forschung besonders?
Genau diese Kreativität der Fancommunity zum Beispiel – und das, was sie aus Taylor Swift macht. Wir sind hier ganz weit entfernt von dem, was viele Leute immer noch über Popkultur denken. Bei Taylor Swift geht es eben genau nicht um standardisierte Retortenmusik, bei der die naiven Fans alles hinnehmen, was die Kulturindustrie ihnen vorsetzt. Ein Vorwurf, den ich leider oft höre und der aus meiner Sicht Ausdruck einer reichlich elitären Haltung ist. Wir reden hier immerhin von einer Künstlerin, die seit über einem Jahrzehnt viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt begeistert. Diese Menschen sollen alle gehirngewaschene Opfer der Kulturindustrie sein, die über einen so langen Zeitraum hinweg etwas hören, das gar nicht ihren Bedürfnissen entspricht? Das ist mit Sicherheit nicht der Fall, auch wenn es ein Popverächter wie Theodor W. Adorno definitiv behaupten würde.
Sie bezeichnen sich selbst als Swiftie. Macht Sie diese Nähe zu Ihrem Forschungsgegenstand befangen?
Ich glaube, es ist ein Mythos, dass man diese Distanz braucht. Im Gegenteil, ich habe mich immer dann besonders zur Forschung motiviert empfunden, wenn mich der Gegenstand begeistert hat. Und sich für etwas zu begeistern bedeutet ja nicht, dass man deshalb unkritisch ist. Beispielweise habe ich mich in meinen Lehrveranstaltungen intensiv mit dem Vorwurf an Taylor Swift auseinandergesetzt, sie würde Queerbaiting betreiben, also die queere Zielgruppe vornehmlich aus Profit- und Imagegründen ansprechen beziehungsweise ködern. Rund 80 Prozent der Studierenden in diesen Lehrveranstaltungen sind glühende Swifties, doch auch sie sehen Swifts Einsatz für die LGBTQIA+-Community eher gemischt.
Und was denken Sie?
Wie viele auch finde ich, dass sich Taylor Swift erst sehr spät für die Rechte derLGBTQIA+-Community und auch für feministische Positionen eingesetzt hat. Gleiches gilt für ihre Positionierung gegen Donald Trump, die sie erst zu den Mid Terms, den Zwischenwahlen zum US-Kongress, im Jahr 2018 öffentlich gemacht hat. Da waren beispielsweise Beyoncé oder Ariana Grande deutlich früher dran. Hier stellt sich aus meiner Sicht schon die Frage, ab wann eine Künstlerin oder ein Künstler, die oder der eine solche Macht hat wie Taylor Swift, immer noch schweigen darf, wenn es um den Schutz der Demokratie geht.
Welche revolutionären Aspekte bringt diese Macht, bringen Taylor Swift und ihr Werk hervor?
Ihr Werk hat endgültig deutlich gemacht, dass eine Frau die mächtigste Akteurin im größtenteils immer noch misogynen Popbusiness sein kann. Diese Frau lässt sich nichts gefallen. Sie ist offen, direkt und in jeder Hinsicht komplett für das verantwortlich, was unter ihrem Namen herausgegeben wird. Dass junge, normschöne Musikerinnen etwas auf dem Kasten haben und ihnen die Frage „Schreibst Du Deine Songs selbst?“ immer seltener gestellt wird, ist eines ihrer großen Verdienste. Darüber hinaus ist sie stilbildend was Songwriting, Songstrukturen und Gesang anbelangt. Etablierte junge Musikerinnen wie Olivia Rodrigo oder Sabrina Carpenter orientieren sich massiv an ihr.
Wenn man einen Einstieg in das Taylorverse wagen will, wo sollte man anfangen?
Ein sehr schöner Einblick, der die Kernfragen ihres Werkes behandelt, ist die Netflix-Dokumentation Miss Americana. Musikalisch ist das schon schwieriger zu sagen, weil ihre künstlerische Entwicklung verschiedene Phasen durchlaufen hat. Wenn man DIE Popqueen kennenlernen will, würde ich mein Lieblingsalbum 1989 empfehlen. Das ist wirklich makelloser Pop, weswegen 1989 von vielen auch als Pop bible bezeichnet wird. Das zuvor erschienene, ebenfalls fabelhafte Album Red zeigt ihren Übergang vom ersten Karriereabschnitt, der eher durch Country geprägt war, hin zur Popmusik.