Über das Anders-Sein

Wie Lehrkräfte professionell mit religiöser Vielfalt an Schulen umgehen | aus uni.vers Forschung 2024

Zwei Kinder im Klassenzimmer
  • Forschung
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  • 19.09.2024
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  • Janosch Freuding, Konstantin Lindner, Stefanie Lorenzen
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  • Lesedauer: 8 Minuten

Lehrkräfte sind in der Schule immer wieder mit religiöser Heterogenität konfrontiert – nicht nur im Religionsunterricht: Unterschiedliche Religionszugehörigkeiten, religiöse Feiertagskulturen oder religionsbezogene Alltagspraktiken erzeugen Wirkung. Nicht selten werden in Bezug auf religiöse Heterogenität auch migrationspolitische Fragestellungen, soziale Herkunft oder sozioökonomische Ungleichheit verhandelt. In der universitären Lehrkräftebildung gilt es daher, Studierende für die Vieldimensionalität, Potenziale und Herausforderungen religiöser Heterogenität zu sensibilisieren.

Klassischerweise werden Phänomene religiöser Vielfalt in der Religionspädagogik unter der Überschrift interreligiöse Bildung bearbeitet. Die grundlegende Konzeption und inhaltliche Ausrichtung interreligiöser Bildungsansätze unterliegen jedoch schon seit längerem einer kritischen Diskussion. Ziel der Ansätze ist häufig die pädagogische Bearbeitung oder Anerkennung von religiöser Differenz. Ein solches Vorgehen kann Differenz jedoch auch überbetonen oder gar erst erzeugen: Nicht selten sind vereindeutigende und dichotome Darstellungen von eigener und fremder religiöser Perspektive zu beobachten, was oft mit Othering einhergeht. Der Begriff Othering (Andersmachung, abgeleitet vom engl. other = andersartig) kommt aus der postkolonialen Theorie und beschreibt die sozio-kulturelle Praxis des "Fremdmachens" von Personen oder Personengruppen mit dem Ziel, dadurch das "Eigene" in Abgenzung stark zu machen.

Herausforderungen interreligiöser Bildung

Herausfordernd ist überdies, dass in der unterrichtspraktischen Umsetzung interreligiöser Ansätze das inter, also ein gleichberechtigtes Lernen verschiedener Religionen voneinander und miteinander, oftmals nicht gelingt. Denn häufig steht eher ein Lernen über andere Religionen im Zentrum entsprechender Lehr-Lern-Prozesse. Auch der in diesem Zusammenhang bediente Begriff Weltreligionen lässt sich im Gefolge von Tomoko Masuzawas The invention of world religions kritisch anfragen – beispielsweise, weil mit diesem Terminus und dem damit einhergehenden Konzept Religionen aus einer christentums- und eurozentrierten Perspektive verallgemeinernd verkürzt und viele Religionen marginalisiert werden oder in ihrer Pluralität nicht zur Geltung kommen.

Lehrkräftebildung im Rahmen religiöser Vielfalt

Dies bedeutet aber nicht, dass die grundlegenden Ziele interreligiöser Bildung ohne Bedeutung wären. Im Gegenteil: Eine religiös und weltanschaulich heterogene Gesellschaft braucht pädagogische Ansätze, die an einem friedlichen gesellschaftlichen Zusammenleben orientiert sind, die den Umgang mit unterschiedlichen religiösen Wahrheitsansprüchen und persönlichen Fremdheitserfahrungen schulen und die dafür nötigen Wissensbestände zugänglich machen. Angesichts der skizzierten Herausforderungen werden diese Ziele in den Bamberger Studiengängen für angehende (Religions-)Lehrkräfte innerhalb eines alternativen Theorierahmens fokussiert, der in den entsprechenden religionspädagogischen Lehrveranstaltungen forschungsbasiert zur Geltung kommt. Eine wichtige Frage ist dabei, ob und wann der Fokus auf Religion oder religiöse Differenz zielführend für die Bearbeitung von Gegenwartsfragen ist: Im Blick auf das Thema Schulerfolg etwa kann der Fokus auf den Faktor Religion davon ablenken, dass sozioökonomische Einflüsse oft entscheidender sind, aber bisweilen mit Religion im Kontext migrationsbedingter Benachteiligung gekoppelt. Religiös konnotierte Gewalttaten wiederum lassen sich auch im Blick auf problematische Männlichkeitsbilder untersuchen. Und im alltäglichen Miteinander erscheinen soziale Kompetenzen vielfach wichtiger als religionsbezogenes Wissen. Überdies wird religiöse Differenz in gesellschaftlichen Diskursen immer wieder dazu benutzt, die Fremdheit oder Nichtzugehörigkeit bestimmter Personen(gruppen) zu begründen. 

Diese Feststellungen sind Anlass, religiöse Vielfalt in den beteiligten Lehramtsstudiengängen mit Hilfe einer heterogenitäts- und othering-sensiblen Rahmung zu betrachten: Religion wird als ein Heterogenitätsfaktor ernstgenommen, ohne religiöse Differenz in ihrer Bedeutung überzubetonen. Die Herstellung von Ungleichheit in Bildungsprozessen wird (selbst-)kritisch reflektiert, indem etwa Mehrheiten-Minderheiten-Verhältnisse in Bezug auf konkrete Lerngruppen und bestimmte Schularten untersucht werden. Auch für den Einfluss oder gar die schulische Reproduktion von gesellschaftlichen Ausgrenzungsstrukturen, die mit stereotypen Sichtweisen auf (bestimmte) Religionen einhergehen, sollen angehende (Religions-)Lehrkräfte sensibilisiert werden.

Religiöse Vielfalt ist mehrdimensional

Im Fokus steht daher eine mehrdimensionale Betrachtung von religiöser Vielfalt: Für ihre spätere Berufspraxis ist es wichtig, dass Lehramtsstudierende einerseits religiöse Wahrheitsansprüche aus der Perspektive eines kritischen Rationalismus bearbeiten können. Andererseits sollten sie mit wichtigen Argumentationen aus der Binnenlogik religiöser Weltanschauungen vertraut sein – nicht zuletzt, weil gesellschaftliche Verständigung auch auf die Sprachfähigkeit gegenüber religiös-symbolischen Weltdeutungen angewiesen ist. (Religions-)Lehrkräfte benötigen zugleich Professionswissen über Entstehung und Wirkung religions- und migrationsbezogener Konflikte und über Othering-Strukturen im Bildungsbereich: Neben anderem können Recherchen im eigenen, lokalen oder sozial-medialen Umfeld die Wahrnehmung dafür schulen, wie prägend derartige Strukturen oftmals sind.

Mindestens ebenso bedeutsam ist die kritische Selbstreflexion des persönlichen religionsbezogenen Vorwissens sowie damit einhergehender Überzeugungen und Werthaltungen – mit dem Augenmerk darauf, dass das scheinbar Persönliche und Subjektive nicht selten in Beziehung zu gesellschaftlichen Wissensformen sowie Machtprozessen steht und dass persönliche Überzeugungen zu Migration und Religion in einem größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhang angesiedelt sind. Studierende sollten befähigt werden, religiöse Differenz zu dekonstruieren – beispielsweise, indem sie gesellschaftliche Einflussgrößen oder individuelle Heterogenitätsmarker miteinbeziehen. Zugleich sollten sie problematische Felder religiöser Differenzsetzungen wie antisemitische Äußerungen oder islamophobe Ausgrenzungen erkennen und auf diese situativ angemessen reagieren können.

(Religions-)Lehrkräfte übersetzen im gesellschaftlichen Diskurs

Nicht zuletzt an dieser Stelle zeigt sich die gesellschaftsbedeutsame Beschäftigung von Lehramtsstudierenden in den Theologien, aber auch in anderen Fächern, mit der Vielfalt unterschiedlicher religiöser Weltdeutungen. Eine heterogene Gesellschaft, die vor großen Transformationsaufgaben steht, braucht Übersetzerinnen und Übersetzer, die zwischen divergierenden religiösen Positionen oder – noch grundlegender gedacht – zwischen unterschiedlichen weltanschaulichen Wahrheitsansprüchen vermitteln. Dies ist besonders wichtig, weil Religionsgemeinschaften Player und/oder Opfer in gesellschaftlichen Debatten sind. Zukünftige (Religions-)Lehrkräfte können diese Übersetzungsaufgabe leisten.

Wichtig scheint aber auch, die Vielfalt der Religionen nicht nur in ihren problematischen Kontexten, sondern zugleich in ihren Potenzialen zu betrachten: Sie erweisen sich als kulturenprägend, können Orientierung in Sinnfragen bieten oder ermöglichen Optionen, den Alltag zu heiligen. Zudem sind Religionsgemeinschaften wichtige Institutionen im Rahmen interkultureller und interreligiöser Verständigung. Formen einer forschenden Auseinandersetzung mit Religionskulturen, einer bildenden Integration von Ritualen oder Feiertagskulturen verschiedener Religionen sowie die Kooperation mit Religionsgemeinschaften im Rahmen des Schullebens zeugen davon. Auch diese Aspekte religiöser Heterogenität gilt es in ihren bildungsbezogenen Chancen und Herausforderungen zu thematisieren.

Die Bamberger Theologien, aber auch das Zentrum für Interreligiöse Studien sehen sich einem produktiven Umgang mit der Vielfalt der Religionen verpflichtet und machen ihre diesbezüglichen Forschungsergebnisse in (Lehr-)Angeboten allen (Lehramts-)Studierenden zugänglich.

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Seite 167547, aktualisiert 19.09.2024