Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Das ist häufig eine der ersten Fragen, die werdende Eltern gestellt bekommen. In sogenannten gender reveal partys wird das Geschlecht des Kindes zelebriert und dem Verwandten- und Bekanntenkreis enthüllt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt werden – bewusst oder unbewusst – Erwartungen an das Kind und dessen Geschlecht gestellt, die seine oder ihre Umwelt prägen. Wie die Umwelt auf geschlechtsspezifisches Denken und Verhalten von Kindern einwirkt, ist Thema des vorliegenden Beitrags.
Der vierjährige Timo blickt skeptisch auf die vor ihm liegenden Spielsachen. Mit dem Einhorn möchte er nicht spielen und in der Puppenküche schon gar nicht, denn das sind ja Spielsachen „für Mädchen“. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass bereits Kinder im Kindergartenalter bestimmte Objekte, Verhaltensweisen und Eigenschaften mit männlich und weiblich verbinden und damit auch konkrete Verhaltenskonsequenzen einhergehen. Diese starre Einteilung in männlich und weiblich nimmt im Verlauf des Kindergartenalters zu und wird von Kindern in ein entweder – oder übersetzt. Zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr erreichen die kindlichen Vorstellungen davon, was angemessen oder unangemessen für einen Jungen oder ein Mädchen ist, üblicherweise ihre stärkste Ausprägung. Im Lauf der Grundschulzeit setzt eine zunehmende Abschwächung dieser geschlechtsbezogenen Verknüpfungen ein.
Diese geschlechtsbezogenen Verknüpfungen, auch Geschlechterstereotype genannt, beruhen darauf, dass Kinder beziehungsweise Menschen im allgemeinen Personen in die sozialen Kategorien männlich und weiblich einteilen. Junge Kinder orientieren sich zunächst am Aussehen von Menschen und nehmen sie als Junge oder Mädchen wahr. Dabei sind für sie lange Haare und rosa Kleidung beispielsweise ein Indiz für eine weibliche Person, bei kurzen Haaren und blauen T-Shirts vermuten sie einen Jungen. Mit zunehmendem Alter verknüpfen Kinder auch Eigenschaften und Tätigkeiten mit einem Geschlecht. Soziale Kategorien wie das Geschlecht funktionieren wie Schubladen und machen den Alltag einfacher, denn sie ermöglichen Vorhersagen über das Verhalten und die Eigenschaften von unbekannten Personen, die in diese Kategorie einsortiert wurden. Diese Vorhersagen entsprechen teilweise tatsächlichen Unterschieden zwischen den Gruppen, teilweise lassen sie sich wissenschaftlich nicht belegen.
Wie lernen Kinder über Geschlecht?
Doch wie kommt es dazu, dass Kinder konkrete geschlechtsbezogene Verknüpfungen erwerben? Eine Antwort darauf liefert die sozial-kognitive Theorie von Kay Bussey und Albert Bandura. Sie geht davon aus, dass Kinder in der Interaktion mit ihrer Umwelt aktiv Erfahrungen sammeln. Als zentrale Erwerbsmechanismen gelten das Beobachten von Modellen, die direkte Vermittlung von Informationen und das Erleben der Konsequenzen des eigenen Verhaltens. Eine wichtige Rolle kommt den Bezugspersonen im familiären Bereich wie Eltern, Großeltern oder Geschwistern, den Kita-Fachkräften in der Kindertagesstätte, den Peers – also gleichaltrigen Kindern – sowie den Medien zu.
Lernen von Modellen bedeutet, dass Kinder reale oder fiktionale Modelle beobachten und von diesen lernen, wie man eine Handlung ausführt und wie man sich in einer bestimmten Situation verhält. In Bezug auf das Geschlecht betrifft dies einerseits die Frage, wer etwas üblicherweise macht, und andererseits, für wen welches Verhalten welche potenziellen Konsequenzen hat. Eltern stellen die wohl wichtigsten Modelle in der frühen Kindheit dar, die Familie wird als zentrale Sozialisationsinstanz beschrieben. Sie leben ihren Kindern vor, für welches Geschlecht welche Verhaltensweisen und Eigenschaften typisch und angemessen sind. Kinder sehen beispielsweise mit eigenen Augen, wer zu Hause putzt, wäscht und kocht, wer täglich arbeiten geht und wer sich darum kümmert, wenn etwas kaputtgeht und repariert werden muss. Auch heutzutage ist in vielen Familien, insbesondere mit kleineren Kindern, die Mutter für die alltäglichen Haushaltstätigkeiten zuständig, während der Vater zur Arbeit geht und am Abend die kaputte Glühbirne wechselt. Ähnlich erleben Kinder in Kindertagesstätten, dass fast ausschließlich Frauen mit der außerfamiliären Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern zu tun haben. Entsprechende Zuschreibungen von Tätigkeiten und Eigenschaften werden auch in den Medien transportiert. Bezogen auf die Abbildung sozialer Normen können Kinderbücher als kulturelle Spiegel einer Gesellschaft interpretiert werden. Durch die darin transportierten Vorstellungen, was oder wie ein Junge oder ein Mädchen zu sein hat, können die Kinder eine Vorstellung entwickeln, was angemessenes Verhalten ist. Der Blick in Kinderbücher zeigt, dass häufig die männlichen Figuren Abenteuer erleben und aktiv sind, während die weiblichen Figuren darauf reduziert werden, hübsch auszusehen und auf ihre Rettung und Hochzeit zu warten.
Lernen durch die Vermittlung von Informationen bezieht sich auf die direkte verbale Weitergabe von Informationen darüber, wie sich Personen unterschiedlichen Geschlechts üblicherweise verhalten und wie sie sich verhalten sollen. Beispiele hierfür wären, wenn ein Vater seinem Sohn erklärt, dass Männer nicht weinen, oder die Mutter ihrer Tochter sagt, dass nur schlanke Frauen attraktiv sind.
Der dritte Erwerbsmechanismus bei Kindern bezieht sich auf Erfahrungen als Folge des eigenen Verhaltens. Diese Erfahrungen können positiv sein und zur Verstärkung des Verhaltens führen oder negativ und damit zu einer Verringerung des Verhaltens führen. Eltern reagieren beispielsweise in Abhängigkeit des Geschlechts ihres Kindes unterschiedlich auf den Ausdruck von Emotionen. Während Weinen bei Mädchen eher akzeptiert wird und mit Unterstützungsverhalten beantwortet wird, sind Eltern bei Jungen eher bereit, leichte bis mittelgradige Formen von Aggression zu tolerieren. Auch Peers spielen hier eine große Rolle. Beispielsweise werden Kinder, die sich nicht geschlechtskonform verhalten, in Teilen mit negativen Kommentaren bedacht und eher ausgegrenzt. In unserer Gesellschaft betrifft dies vor allem Jungen. Während nicht geschlechtskonformes Verhalten bei Mädchen eher toleriert wird, wird auf entsprechendes Verhalten bei Jungen sowohl von Seiten der Erwachsenen als auch von Seiten der Peers mit deutlicherer Ablehnung reagiert.
Daneben spielt die materielle Ausgestaltung der Umwelt eine grundlegende Rolle. Jungen und Mädchen werden bereits im Säuglingsalter unterschiedliche Eigenschaften und Vorlieben zugeschrieben, sodass ihnen noch bevor sie sich überhaupt verständlich machen können, eine unterschiedliche materielle Umwelt zu Verfügung gestellt wird. Dies betrifft die Farb- und Motivwahl für Säuglingskleidung, Schlafsäcke und Bettdecken, das gekaufte Spielzeug oder die Auswahl von Freizeitaktivitäten. So werden männlichen Säuglingen seltener mit Glitzer versehene Kleidungsstücke angezogen. Hingegen werden sich Jungen als Kleinkinder häufiger in der Bambini-Gruppe des örtlichen Fußballvereins wiederfinden als es bei einem Mädchen der Fall wäre.
Kinder lernen also auf ganz unterschiedlichen Wegen, was als weiblich oder männlich gilt. Demzufolge gibt es eine Vielzahl von möglichen Ansatzpunkten, wie bestehende geschlechterbezogene Vorstellungen und Verhaltensweisen verändert oder erweitert werden können. Werden durch Bezugspersonen oder in Büchern und Filmen Rollen überschritten und vielfältige geschlechtliche Darstellungen abgebildet, so kann dies dazu beitragen, geschlechtsbezogene Vorstellungen zu erweitern und Stereotype aufzubrechen. Ebenso können Erwachsene sich ihre eigenen Stereotype bewusstmachen, sie hinterfragen und bei der Gestaltung der Umwelt, der Reaktion auf kindliches Verhalten und der Weitergabe von Geschlechterbildern im Blick behalten. Daneben ist ein kritischer Blick auf gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu werfen, die die Aufrechterhaltung von Geschlechterungerechtigkeiten begünstigen und damit zu gesellschaftlichen Rollenbildern von Männern und Frauen beitragen.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?
Im aktuellen Forschungsprojekt Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm? untersuchen Jan Lenhart und Lars Burghardt den Zusammenhang elterlicher Geschlechterstereotype mit den bevorzugten Bilderbüchern der Kinder und deren geschlechtsspezifischem Spielverhalten. Hierzu werden unter anderem die Stereotype in Bilderbüchern untersucht. Sowohl die Eltern als auch die Figuren in Bilderbüchern können als Modelle verstanden werden, welche im Sinne des Modelllernens Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben und was sich auch in unterschiedlichem Spielverhalten zeigen kann.
Weitere Informationen: www.uni-bamberg.de/fbe/forschung/laufend/der-apfel-faellt-nicht-weit-vom-stamm
Projektförderung: Interne Forschungsförderung der Universität Bamberg