Wenn die Geburt nicht nur Glück bringt

App I-PREGNO unterstützt psychosozial belastete Eltern | aus uni.vers Forschung 2024

Zwei Personen am Küchentisch
  • Forschung
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  • 05.09.2024
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  • Natalie Schoemann, Carmen Henning
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  • Lesedauer: 8 Minuten

Eine Geburt verändert das Leben von Familien. Bei psychosozial vorbelasteten Eltern ist das Risiko hoch, dass sich diese Veränderungen auch negativ auswirken können und beispielsweise zu Depressionen oder Übergewicht und Adipositas führen. Gleichzeitig reichen übliche Präventionsmaßnahmen teilweise nicht aus, diese Familien ausreichend zu versorgen. In einem internationalen Verbundprojekt entwickelte die Universität Bamberg daher die App I-PREGNO und überprüfte ihre Wirksamkeit. Für diese mHealth-Intervention arbeitete das Team mit bestehenden Betreuungsangeboten zusammen.

Psychosozial belastete Familien, also Familien mit finanziellen, körperlichen wie mentalen gesundheitlichen und sozialen Einschränkungen, weisen vor allem in belastenden Lebensphasen einen hohen Betreuungsbedarf auf. Dies zeigt sich beispielsweise in der Zeit nach der Geburt eines Kindes, die mit vielen Herausforderungen hinsichtlich der Aufrechterhaltung oder Etablierung von Gesundheitsverhalten einhergeht. Ein niedriger sozioökonomischer Status, Partnerschaftskonflikte, Alleinerziehung, Vorerkrankungen oder geringe Bildung verstärken die Effekte der hormonellen, verhaltensbezogenen und psychologischen Veränderungen der Mütter und Väter in dieser Lebensphase. Sie können zur Entstehung von psychischen oder körperlichen Erkrankungen führen, beispielsweise zu postpartaler Depression oder Adipositas. Um diesen vorzubeugen und die Familien in dieser Zeit zu unterstützen, gibt es Betreuungsangebote durch Fachkräfte des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen in Kooperation mit dem Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI), welche besonders belastete Familien in dieser Zeit begleiten. Die Professur für Pathopsychologie der Universität Bamberg hat zusammen mit dem DJI und anderen internationalen Projektpartnern eine mobile Applikation (mobile Health; mHealth) für psychosozial belastete Familien entwickelt. Sie soll gesunde Bewegung und Ernährung sowie psychologische Fähigkeiten wie Stressbewältigung und Emotionsregulation fördern und aufrechterhalten, welche in Zusammenhang mit einem gesunden Gewichtsmanagement stehen.

Eine Gesundheitsapp: Immer und überall nutzbar

Die eingeschränkte Erreichbarkeit psychosozial belasteter Familien stellt in der Praxis und Forschung eine Herausforderung dar. Die Familien sind häufig mit Stressoren konfrontiert, die ihre Teilnahmemöglichkeit an Studien beeinträchtigen können. Dieses sogenannte Präventionsdilemma führt dazu, dass vor allem schwer belastete Personen häufig nicht durch Präventionsmaßnahmen erreicht werden. Zur Verbesserung der Erreichbarkeit arbeitete das Team deshalb mit betreuenden Gesundheitsfachkräften, insbesondere mit Hebammen, Familienhebammen oder Familien-, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und Familien-, Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger aus ganz Deutschland zusammen.
Durch dieses Vorgehen konnten 91 Familien für die Studie A rekrutiert werden, die mindestens einen der zuvor beschriebenen Belastungsfaktoren aufwiesen. Die Familien erhielten die mHealth-App ergänzend zu regelmäßig stattfindenden Besuchen ihrer Fachkraft, welche im Vorfeld durch das I-PREGNO-Team und durch eine externe Ernährungsberaterin in motivierender Gesprächsführung und in den Kerninhalten der App geschult wurde. Dies nennt man auch Blended-Care-Ansatz, also die Verzahnung von mHealth mit bestehenden Versorgungsstrukturen.
Parallel wurde eine Studie B mit Familien ohne psychosoziale Belastungen durchgeführt, um eine Vergleichsanalyse der Wirksamkeit in beiden Gruppen zu ermöglichen. Diese Familien wurden überwiegend online auf die Studie aufmerksam gemacht und konnten sich selbstständig bei der I-PREGNO-Studie anmelden.
In beiden Studien gab es jeweils eine Interventions- und eine Kontrollgruppe im randomisiert kontrollierten Studiendesign, wobei die Teilnehmenden der Interventionsgruppe die App jeweils 12 Wochen nutzen konnten.

Gesunde Eltern durch Pyschoedukation, Ernährungstipps und Übungen

Die mHealth-App basiert auf kognitiv-behavioralen Prinzipien und wurde durch ein interdisziplinäres Team aus Eltern mit psychosozialer Belastung, Fachkräften der Frühen Hilfen, Expertinnen und Experten aus Medizin, Ernährungs- und Bewegungswissenschaften, Psychologie, Pädagogik und IT entwickelt. Sie beinhaltet zwölf Module. Drei Module umfassen das Kennenlernen und die Zielsetzung der App und die Rückfallprävention. Sieben weitere Module beinhalten psychologische Aspekte des Gesundheitsverhaltens: Selbstfürsorge, Stressbewältigung, Emotionsregulierung, Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl, Achtsamkeit, soziale Kompetenzen und Selbstkontrolle des Gesundheitsverhaltens. Zudem umfasst die App jeweils ein Modul zu Ernährung und Bewegung. Mittels abwechslungsreicher Übungen von jeweils etwa 10 bis 15 Minuten, Podcasts und psychoedukativen Elementen können sich Mütter und Väter gezielt die Themen auswählen, die für sie relevant sind. Zusätzlich zu den zwölf Modulen sind ein persönliches Tagebuch für Stimmung, Bewegungs- und Essverhalten sowie Schlafqualität, ein Ordner zum Speichern von Lieblingsübungen und -strategien, Informationen über die Studie selbst und Notfallkontakte integriert. Eine Besonderheit ist die Möglichkeit, die App mit einem persönlichen virtuellen Coach an den Elternteil anzupassen, um sicherzustellen, dass die Inhalte den unterschiedlichen Bedürfnissen und Perspektiven entsprechen.

Erste Ergebnisse bestätigen Erreichbarkeit der Zielgruppe

Die demographischen Daten und Vergleichsanalysen der beiden Studien zeigen, dass es gelungen ist, psychosozial belastete Familien in Studie A mit der Intervention zu erreichen: Jeweils knapp ein Drittel der Teilnehmenden erhielt staatliche Unterstützung (32%), beispielsweise Bürgergeld, oder war alleinerziehend (30%); weniger als die Hälfte der Schwangerschaften (45%) waren geplant und 78% hatten einen mittleren bis niedrigen Bildungsabschluss (nur Mütter). Mehr als die Hälfte der Mütter war nach Angaben der Fachkräfte psychisch belastet (53%), bei etwa einem Drittel lagen Partnerschaftskonflikte (32%) oder traumatische Lebensereignisse (33%) vor. Im Gegensatz dazu erhielt in Studie B nur knapp eine von 25 Müttern staatliche Unterstützung (4%) oder war alleinerziehend (3%); neun von zehn Schwangerschaften waren geplant (89%); lediglich 9% hatten einen mittleren bis niedrigen Bildungsabschluss, mehr als zwei Drittel der Mütter besaßen einen Hochschulabschluss (73%). Familien mit psychosozialen Belastungen wiesen zudem eine ausgeprägtere soziale Isolation auf, zeigten erhöhte Depressionswerte und berichteten von einem geringeren Gefühl elterlicher Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Der Umgang mit den eigenen Emotionen war für psychosozial belastete Familien herausfordernder als für die Teilnehmenden der Studie B.

Fazit

Die unterschiedlichen Ausprägungen in den Fragebögen deuten darauf hin, dass innerhalb des I-PREGNO Projekts mit dem Blended-Care-Ansatz psychosozial belastete Familien erreicht werden konnten. Nach Studienabschluss soll untersucht werden, ob sich die Nutzung der App auf das Wohlbefinden, die Resilienz – also die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen – und das Gewichtsmanagement ausgewirkt hat. Bestehende Versorgungsstrukturen erweisen sich als wertvolles Bindeglied zwischen Forschung und psychosozial benachteiligten Zielgruppen. Die Integration von mHealth-Angeboten in die Standardversorgung kann außerdem zur Entlastung der Fachkräfte beitragen und die Effizienz der Versorgung steigern. Dies verdeutlicht auch die Aussage einer Fachkraft: „Für mich war die I-PREGNO-App bei den (…) Kontakten ein guter Mittler zu Gesundheitsthemen, Prophylaxe und Problemen!“. Besonders in der heutigen Zeit ist mHealth eine kostengünstige, auf individuelle Bedürfnisse abstimmbare und flächendeckende Möglichkeit der Gesundheitsprävention und -förderung und könnte auch in Zukunft Präventionsdilemmata entgegenwirken.

Dieses Projekt wurde vom Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramm der Europäischen Union im Rahmen der ERA-NET Cofund Aktion N°727565 gefördert. Es ist Teil der "European Joint Programming Initiative A Healthy Diet for a Healths Life (JPI HDHL)".

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Seite 167478, aktualisiert 05.09.2024