Im April und Mai 2025 findet – wie alle drei Jahre – die PISA-Haupterhebung statt. Tausende Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 Jahren bearbeiten Aufgaben, die Aufschluss über ihre Fähigkeiten in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften geben. Zeit für ein Gespräch mit der Bildungswissenschaftlerin Prof. Dr. Cordula Artelt, Inhaberin des Lehrstuhls für Bildungsforschung im Längsschnitt und Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe.
Die PISA-Studie wurde 2000 das erste Mal veröffentlicht und wird damit in diesem Jahr 25 Jahre alt. Welchen Stellenwert hat sie für Deutschland?
Prof. Dr. Cordula Artelt: Die PISA-Studie findet alle drei Jahre statt. Als Folge der ersten PISA-Studie wurden nationale Bildungsstandards etabliert, die wiederum in weiteren Erhebungen überprüft werden. Das findet zum Ende der Grundschule und zum Ende der Sekundarstufe I statt. Diese verschiedenen Maßnahmen setzen sich zur Monitoringstrategie der Kultusministerkonferenz der Länder in Deutschland zusammen, die die Qualität der Bildung in Deutschland wissenschaftlich fundiert weiterentwickelt. Insbesondere durch PISA können wir uns international verorten und mit den anderen teilnehmenden Ländern vergleichen. So erhalten wir eine Einschätzung zu den Kompetenzen, die im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als Resultat von schulischer Bildung für wichtig gehalten werden.
Konkurrenz belebt gewissermaßen das Geschäft?
Ja, der internationale Vergleich kann politische Motivation schaffen, um auch im internationalen Kontext gut abzuschneiden. Insofern bietet PISA eine wichtige Einordnung und Anregungen. Beispielsweise sind Bayern und Sachsen im nationalen Vergleich in der Regel auf den vorderen Plätzen zu finden, international aber bewegen sich ihre Werte im Mittelfeld. Diese verschiedenen Perspektiven sind aufschlussreich.
Welche Kompetenzen werden im Rahmen der PISA-Studien berücksichtigt?
Die OECD-Staaten haben sich auf bestimmte Kompetenzen geeinigt, die als wichtig für die Vorbereitung auf das Leben angesehen werden: Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz. Die sind auch gut messbar. Im Gegensatz dazu wäre beispielsweise Kreativität als Kompetenz schwieriger zu messen. Daher ist sie nicht Teil der PISA-Studie. Es ist meines Erachtens wichtig, diese Auswahl nicht als Bewertung der Fächer und Kompetenzen zu sehen, sondern als pragmatische Entscheidung, was zuverlässig gemessen werden kann.
Länder mit zentral ausgerichteten Bildungssystemen schneiden häufig besser ab.
Das stimmt und hängt damit zusammen, dass es einfacher ist, zentrale Bildungssysteme zu steuern. Es braucht weniger Abstimmungen und Anpassungen. Unser Föderalismus hat aber auch Vorteile: Der unmittelbare Vergleich ermöglicht es den Bundesländern, voneinander zu lernen. Ich glaube schon, dass ein zentrales Bildungssystem einfacher wäre, aber es würde auch viel an kleineren guten Initiativen verloren gehen. Gleichzeitig arbeiten die Bundesländer zunehmend zusammen. Im Bereich Digitalisierung ist es häufig sinnvoller, ein gemeinsames System zu entwickeln, als 16 eigene Varianten.
Die erste PISA-Studie wurde vor 25 Jahren veröffentlicht. Welche Entwicklung beobachten Sie seitdem?
Am Anfang der Zyklen der PISA-Untersuchung hatte Deutschland einen schlechten Start mit seinen Werten in der ersten Veröffentlichung 2000. Die vergleichsweise schlechten Ergebnisse sind uns unter dem Stichwort PISA-Schock in Erinnerung. Anschließend haben wir eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung erlebt bis 2012. Zeitweise lag Deutschland sogar über dem OECD-Mittel, wenn auch nie ganz oben. Seit 2012 ist wieder ein Abwärtstrend zu beobachten.
Wie lässt sich dieser Abwärtstrend erklären?
In den letzten zwölf Jahren hat sich in den Ländern, die an PISA teilnehmen, viel verändert, insbesondere in der Zusammensetzung der Schülerschaft. So ist beispielsweise der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund deutlich gestiegen. Zudem hat die Digitalisierung eine große Rolle gespielt, was die Art und Weise des Lernens und Lehrens verändert hat. Die Ergebnisse gesonderter
Erhebungen zeigen, dass wir noch immer hinterherhinken, was die intelligente Nutzung digitaler Medien für Unterrichtszwecke angeht. Hier könnte man mit gezielten Maßnahmen ansetzen.
Blicken wir einmal über die Landesgrenzen hinaus. Was macht Singapur so erfolgreich, dass es bei PISA die Rangliste anführt? Können wir uns etwas abschauen?
Singapur hat ein komplett anderes Bildungssystem. Was dort besonders auffällt, ist die starke Wertschätzung für Bildung. Die Bedeutung, die dem Thema beigemessen wird. Singapur investiert stark in sein Bildungssystem, insbesondere in die Ausbildung und Weiterbildung von Lehrkräften. Sie verdienen gut und ihr Beruf ist höchst angesehen. Das vermisse ich in Deutschland. Hier fehlt oft diese uneingeschränkte Wertschätzung für Bildung, sowohl bei Schülerinnen und Schülern als auch gesamtgesellschaftlich. In puncto Anerkennung können wir uns also einiges abschauen.

Inwiefern lassen sich aus den PISA-Ergebnissen konkrete Maßnahmen zur Verbesserung im deutschen Schulunterricht ableiten?
Die jeweils aktuellen Ergebnisse von PISA geben bei Veröffentlichung Aufschluss über die Testung von 15-Jährigen vor etwa zwei Jahren. Der Weg von diesen aggregierten
PISA-Ergebnissen im internationalen Vergleich bis zum Beispiel in die Deutschstunde der 7a an einer Realschule in
Bremen ist natürlich weit. Deswegen gibt es darüber hinaus Lernstandsmessungen wie beispielsweise VERA, die an die PISA-Studie angelehnt sind. Diese Tests werden von den Bundesländern durchgeführt und den Schulen zur Verfügung gestellt. Die Schulen führen die Tests mit ihren Klassen durch und erhalten eine Auswertung, die auch Kompetenzstufen und Anforderungen umfasst. Für die Lehrkraft sind sie ein Vergleich zu anderen Klassen derselben Klassenstufe und helfen bei der Analyse von besonderen Anforderungen. So ergibt sich ein besseres Gesamtbild. Dass eine konkrete Verbesserung des Unterrichts am Ende gelingt, setzt voraus, dass sich verschiedene Player wie Schulaufsicht und Lehrkräfte dafür einsetzen. Wichtig ist dabei immer eine sensible Kommunikation: Es geht nicht darum, dass mit den Testungen einzelne Lehrkräfte bewertet werden, sondern darum, Ansatzpunkte für eine Verbesserung des jeweiligen Unterrichts oder von Fördermaßnahmen zu finden.
Haben Sie ein Beispiel für aktuelle Maßnahmen?
Im deutschen Bildungssystem wurde lange Zeit das Budget gleichmäßig verteilt, sodass jedes Kind im Prinzip die gleiche Unterstützung erhielt. Der Bildungserfolg hängt aber unter anderem von der sozialen Herkunft ab. An dieser Stelle setzen verschiedene Fördermaßnahmen an. Neu ist das Startchancen-Programm, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) aufgesetzt hat. Durch die Gelder werden seit August 2024 gezielt 2.125 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler unterstützt. Wie sich diese Unterstützung bis zum Ende der Laufzeit im Schuljahr 2026/2027 auszahlt, wird von einem Konsortium wissenschaftlich evaluiert, in dem auch das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) vertreten ist.
Ein weiteres Beispiel ist die PISA-Offensive in Bayern, die an Grundschulen mehr Zeit für die Basiskompetenzen schaffen will. Das ist ein sinnvoller Ansatz, lässt sich aber auch noch weiterdenken: In der weiterführenden Schule wird oft angenommen, dass Schülerinnen und Schüler bereits eine gute Lesekompetenz haben, was nicht immer der Fall ist.
Wäre es daher sinnvoll, dass die Grundkompetenzen im Lehramtsstudium bereits eine Rolle spielen?
Im Lehramtsstudium werden in der Regel zwei Fächer grundständig studiert, ergänzt durch Fachdidaktiken, Psychologie und Erziehungswissenschaften. Die Sensibilität für bestimmte Themen variiert je nach Fach. In der Grundschule ist die Förderung von Grundkompetenzen ein wichtiges Thema, in weiterführenden Schulen oft kaum. Die Fachdidaktik kümmert sich primär darum, wie man den Gegenstand gut an die Schülerinnen und Schüler bringt. Weniger darum, was auf dem Weg dahin zum Beispiel durch mangelndes Leseverstehen scheitern kann. Ein Ansatz wären hier kontinuierliche Fort- und Weiterbildungen, um Lehrkräfte in der Förderung von Basiskompetenzen in ihren jeweiligen Fächern zu unterstützen.

Welche zusätzlichen Erkenntnisse entstehen aus Längsschnittdaten des LIfBi?
Vergleichsstudien wie PISA bieten repräsentative Querschnittsdaten, die zeigen, wie die 15-Jährigen in Deutschland abschneiden. Längsschnittstudien verfolgen hingegen individuelle Bildungswege über die Zeit. Sie ermöglichen es, Entwicklungen einzelner Personen über lange Zeiträume zu verfolgen und zu erklären, warum bestimmte Entwicklungen eintreten. Sie zeigen auch nachschulische Entwicklungen und die Plastizität von Bildungswegen. Wir sehen, dass Bildungswege ganz verschieden aussehen können. Wir haben kürzlich eine ganze Kohorte von Personen nach 40 Jahren noch einmal betrachtet. Da konnten wir sehen, dass viele von ihnen über die Zeit Abschlüsse nachgeholt haben, in anderen Berufsfeldern unterwegs sind oder noch einmal mit großer Motivation ein Studium begonnen haben. Nichts ist nach dem ersten Schulabschluss in Stein gemeißelt. Davon ausgehend stellt sich dann die Frage, was die Kontexte für diese positiven Entwicklungen waren – wie zum Beispiel familiäre Bedingungen oder eine Förderung durch den Arbeitgeber. Das ist sehr komplex und hier steckt ein reichhaltiges Potenzial an Erkenntnissen. Diese längsschnittlichen Daten helfen also, falsche Annahmen zu korrigieren. Sie bestätigen die Wichtigkeit eines flexiblen Bildungssystems, das auf verschiedene Lebenswege reagieren kann und kontinuierliche Weiterbildung ermöglicht. Beide Perspektiven – Querschnitt und Längsschnitt – sind wichtig, da sie unterschiedliche Stärken haben und zusammen ein vollständigeres Bild der Bildungssituation liefern.
Welche Entwicklungen im deutschen Bildungssystem beobachten Sie mit Sorge?
Tatsächlich insbesondere die vorhin bereits erwähnte mangelnde Wertschätzung für den Lehrberuf. Das Bild, das – nicht zuletzt auch in den Medien – vorherrscht, ist geprägt von Stichworten wie Lehrkräftemangel, Stress und Belastung, Sanierungsstau an Schulen, Hausforderungen der Digitalisierung und steigende Anforderungen an Integration und Inklusion. Das kann auch potenzielle Lehrkräfte abschrecken. Mehr Wertschätzung für Bildung und auch für den wichtigen Beruf der Lehrkraft könnte im Schulsystem viel bewirken!
In Bayern wäre außerdem ein verbessertes Verhältnis von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern an den Schulen und eine größere Integration von Ganztagskonzepten wünschenswert. Es fehlt oft an einer sinnvollen Verzahnung von Vormittags- und Nachmittagsangeboten, was besonders für Kinder aus bildungsschwachen Familien wichtig wäre. Wenn hier eine gute Staffelübergabe stattfindet, könnten die Kinder stärker profitieren. Das Potenzial von Ganztagsschulen ist vor allem für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern groß! Trotzdem sehe ich natürlich bei unserem Schulsystem auch viele Stärken.
Welche würden Sie da benennen?
Wir haben ein starkes staatliches Schulsystem, mit einem verbrieften Grundrecht auf Bildung, mit einer Schulpflicht und mit Gesetzen wie dem Gute-Kita-Gesetz und ähnlichem. Dies gewährleistet eine gute Bildung für alle und verhindert eine starke Segregation, wie sie in Ländern mit vielen privaten Schulen zu beobachten ist. Diese Entwicklungen bringen durchaus zum Ausdruck, dass die Gesellschaft ein Interesse daran hat, dass sie eine gute Bildung für alle gewährleistet und sich als Staat dafür verantwortlich fühlt.
Ich halte auch die Entwicklung im Bereich Grundschule für vorbildlich. Lehrkräfte an Grundschulen sind mittlerweile gewissermaßen Universalgelehrte und Allrounder in Sachen Integration und Inklusion und damit einhergehend auch in der Differenzierung ihres Unterrichts. Und sie haben dabei die Sprachentwicklung der Kinder genauso im Blick wie ihr soziales Lernen. Das finde ich wirklich beeindruckend und stimmt mich für die kommenden Jahre optimistisch.

Prof. Dr. Cordula Artelt ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bildungsforschung im Längsschnitt und Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi). Nach ihrer Promotion arbeitete sie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo sie im Jahr 2000 an der ersten PISA-Studie mitarbeitete. In den folgenden Jahren war sie Mitglied eines nationalen Konsortiums für Lesekompetenz und sowohl als Autorin als auch als Herausgeberin der Berichte involviert.
Das Leibniz-Institut für Bildungsverläufe ist ein An-Institut der Universität Bamberg. Es widmet sich der Erforschung von Bildungsprozessen und -verläufen über die gesamte Lebensspanne. Das LIfBi führt unter anderem das Nationale Bildungspanel (NEPS) durch, das umfassende Daten zu Bildungsverläufen von Menschen in Deutschland sammelt und analysiert.
