Fleisch aus dem Labor, Proteine aus Hefepilzen oder Burger aus Algen – eine Vielzahl von Start-ups mit Milliardeninvestitionen im Rücken verspricht alternative Proteine ohne Tierleid. Doch während sie für eine Welt ohne Massentierhaltung arbeiten, wiederholt sich ein historisches Muster: Wie schon bei der Intensivierung der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg werden die Menschen, die unser Essen produzieren, kaum einbezogen. Eine Studie der Europäischen Ethnologie untersucht diese Entwicklung.
Die Zahlen sind beeindruckend: Innerhalb des letzten Jahrzehnts verdoppelten sich die globalen Investmentraten in Alternative Proteinherstellung (AP) im Schnitt jährlich – selbst während der Pandemie wurde ein Wachstum von 3,2 Milliarden Dollar (2020) auf 5,1 Milliarden Dollar (2021) verzeichnet. Die Motivation: Unsere derzeitige Fleisch- und Milchproduktion verursacht enorme Umwelt- und Klimaprobleme. Etwa 15 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen stammen aus der Tierhaltung. Zudem stehen die ethischen Probleme der Massentierhaltung in der Kritik. Tatsächlich sprechen viele wissenschaftliche Ergebnisse für alternative Proteinquellen.
Der Mehlwurm benötigt für die Produktion eines Kilogramms Protein nur 10 Prozent der Fläche, die für die gleiche Menge Fleischprotein nötig wäre. Algen wachsen sogar ohne Ackerland und verbrauchen dabei CO2. Und laborkultiviertes Fleisch könnte theoretisch mit einem Bruchteil der Ressourcen auskommen, die für die Aufzucht ganzer Tiere erforderlich sind. Politisch werden daher sowohl Grundlagenforschungen als auch Förderungen von Unternehmen im Bereich der AP gezielt mitangestoßen, beispielsweise in der Agenda 2030 oder über das EU-Forschungsprogramm Horizon Europe, das allein 32 Millionen Euro für Studien zu AP zur Verfügung stellt. „Aktuell werden sowohl biotechnologische Möglichkeiten wie auch ökonomisch-lebensmittelrechtliche Anwendungspotenziale ausgearbeitet“, sagt Prof. Dr. Barbara Wittmann, Inhaberin der Juniorprofessur für Europäische Ethnologie der Universität Bamberg, die in einer aktuellen Publikation die Diskurse um alternative Proteinproduktion analysiert. „Gerade Implikationen für landwirtschaftliche Strukturen werden bislang kaum beleuchtet.“
Das Marketing der Food-Tech-Branche
Fast alle Start-ups für AP treten mit einer Mission oder Vision an. Beispielsweise spricht Infinite Roots auf seiner Website von der „harmony of things“ von „Mother Earth“. Das Unternehmen MosaMeat wirbt mit dem altruistischen Ziel eines „bite out of a better future – starting with the world’s kindest beef burger“. „Eine mit Superlativen und revolutionären Versprechungen aufgeladene, moralisierende Sprache ist im Bereich von jungen Start-ups generell üblich, um Investoren zu gewinnen“, sagt Wittmann. Doch besonders die wachsende Kluft zwischen den ethischen Versprechen zur Rettung des Planeten einerseits und der massiven Venture-Capital-Investmentblase andererseits bedürften einer genaueren Betrachtung.
Mit Blick auf Umwelt und Klima sind marktfähige Lösungen ebenso wünschenswert wie nötig. Kritisch zu beleuchten ist jedoch laut Barbara Wittmann das dabei entstehende „Constructing food for finance“, bei dem Nahrungsmittel primär als Finanzprodukte konzipiert werden. Geschäftsmodelle sind auf rasches Wachstum ausgerichtet, Patente sichern Marktmonopole, Innovationen werden wichtiger als Alltagstauglichkeit.
Historische Parallelen: Wiederholt die Food-Tech-Industrie alte Fehler?
Die gegenwärtige Entwicklung im Bereich der AP erinnert an vergangene Konstellationen im Agrarsektor. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die sogenannte Rationalisierung der Landwirtschaft maßgeblich von Industrie, Politik und Wissenschaft vorgegeben. Landwirtinnen und Landwirte galten primär als „Empfangende von Wissen“, kaum als gleichwertige Partner. „Diese einseitige Fokussierung auf Effizienz hat einen Teil der Probleme mitgeschaffen, für die heute Lösungen gesucht werden: Biodiversitätsverlust, Klimabelastung und Tierleid“, sagt Wittmann. Gleichzeitig bedingte sie eine „Wachsen oder Weichen“-Dynamik, die etwa in Deutschland dazu führte, dass die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft von rund 4,8 Millionen in der Nachkriegszeit auf heute etwa 650.000 sank.
Viele der AP-Start-ups werben damit, Nahrung „ohne Landwirtschaft“ zu produzieren. Farmless trägt diese Vision sogar im Namen. Fleisch und Milch sollen künftig unabhängig von nicht-steuerbaren Umwelteinflüssen entstehen, was gleichzeitig aber zu neuen Abhängigkeiten und Sicherheitsrisiken unter Laborbedingungen führt. Angesichts der rund 30 Millionen Menschen allein in der EU, deren Existenzgrundlage direkt oder indirekt mit der tierischen Produktion verknüpft ist, wird der hier imaginierte „Ersatz“ bestehender bäuerlicher Strukturen in ländlichen Regionen teils als erhebliches Risiko für bestehende Beschäftigungsverhältnisse angesehen.
Transformation: soziale Dimension von Nachhaltigkeit berücksichtigen
Viele landwirtschaftliche Verbände und zahlreiche Landwirtinnen und Landwirte sehen die neuen Entwicklungen daher kritisch und haben Sorge um ihre wirtschaftliche Zukunft. Gleichzeitig experimentieren progressive Betriebe bereits mit eigenen Alternativen wie Algenfarmen auf Basis der Abwärme von Biogasanlagen oder Insektenzucht als Futtermittelquelle, die sich als nachhaltige Ergänzung zur konventionellen Landwirtschaft etablieren könnten. Wie sich diese Ansätze weiterentwickeln, bleibt laut Wittmann abzuwarten: Der kulturhistorische Blick zeige, dass politisch angestoßene Transformationsbestrebungen – nicht nur, aber gerade auch innerhalb der Landwirtschaft – gut daran täten, neben dem Fokus auf ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit die dritte, nämlich soziale Säule stärker miteinzubeziehen. „Dies sollte dann auch beinhalten, den Stimmen landwirtschaftlicher Akteurinnen und Akteure angesichts der drängenden Fragen um ihre eigene Zukunft weitaus mehr Raum zu geben und damit auch der sozialen Dimension von Nachhaltigkeit gerecht zu werden.“
Emotionale Kosten von Wandel: Ein Blick ins Allgäu
Diese menschliche Dimension landwirtschaftlicher Transformation nimmt auch das laufende Promotionsprojekt von Alena Mathis, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juniorprofessur für Europäische Ethnologie, über das Phänomen der Solastalgie in den Blick. Ihre Forschungen in der Allgäuer Alpwirtschaft zeigen: Mit als Verlust wahrgenommenen naturräumlichen Veränderungen entstehen tiefgreifende emotionale und kulturelle Herausforderungen. Vor allem die Folgen des Klimawandels schlagen sich in der sensiblen Berglebenswelt nieder, längst erfordert der Erhalt der typischen, durch die Alpwirtschaft geprägten Landschaft erhöhte Anpassungsmaßnahmen. Zusätzlich setzen Tourismus, Naturschutz und die Rückkehr von Wolf und Bär die traditionelle Alpwirtschaft unter Druck. „Auch hier zeigt sich: Landwirtschaft ist nicht nur Produktion – sie ist Teil regionaler Identitäten, Kulturen und sozialer Strukturen“, sagt Alena Mathis. Der Einbezug ethnologisch-kulturwissenschaftlicher Analysen in bestehende Transformationsbestrebungen kann daher helfen zu vermeiden, dass diese nur technisch funktionieren, aber menschlich scheitern.

Aktuelle Publikation
Wittmann, Barbara
(im Erscheinen). Von missions and visions – Diskurse um alternative Proteinproduktion und eine Zukunft ohne Landwirtschaft. In: Ernst Langthaler, Ulrich Ermann, Marianne Penker, Markus Schermer (Hrsg.): Nahrungswelten transformieren. Baden-Baden: Nomos 2025.