Lohn der Mühe oder müheloser Lohn?

10 Jahre Mindestlohn in Deutschland | aus uni.kat 02/2025

Darstellung unterschiedlicher Berufe
  • Forschung
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  • 01.12.2025
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  • Katja Hirnickel
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  • Lesedauer: 7 Minuten

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Matthias Dütsch über deutsche Lohnpolitik im internationalen Vergleich, ob für Beschäftigte im Niedriglohnsektor am Monatsende auch mehr Geld in der Tasche ist und warum der Mindestlohn mehr ist als nur eine Zahl.

Professor Dütsch, Sie sind Sonderprofessor in Bamberg. Was genau bedeutet das?

Prof. Dr. Matthias Dütsch: Seit März 2023 bin ich Inhaber der Professur für Soziologie, insbesondere Arbeitsforschung an der Universität Bamberg, wo ich übrigens auch promoviert habe. Es handelt sich dabei um eine Sonderprofessur, die in Kooperation mit einem externen Partner eingerichtet wurde. Ein solches Modell soll zwei Institutionen miteinander verbinden, in meinem Fall wissenschaftliche Forschung und Lehre in Bamberg, gleichzeitig angewandte Forschung, Forschungsmanagement und praktische Politikberatung in Berlin. Ich erforsche Mindest- und Niedriglöhne, berufliche Belastungen und Beanspruchungen, Erwerbsverläufe und berufliche Mobilität. Mit meinem Bamberger Kollegen Marvin Reuter werde ich zukünftig beispielsweise die Effekte des Mindestlohns auf die Gesundheit analysieren, mit Fokus auf den deutschen Arbeitsmarkt und die mentale Gesundheit der Beschäftigten. 

Wie gelangen Ihre Forschungsergebnisse dann in die Politik? 

In Berlin bin ich an der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in der Geschäfts- und Informationsstelle für den Mindestlohn angestellt – das ist auch die Ko-operationspartnerin für die Professur. Was wir dort machen, ist eine gesetzliche Aufgabe: Im Mindestlohngesetz ist verankert, dass diese Geschäftsstelle die Mindestlohnkommission bei der Durchführung ihrer Aufgaben unterstützt. Dies bedeutet konkret, dass sie unter anderem den Mindestlohnbericht erstellt. Er ist die Grundlage für die Entscheidung zur Anpassung des Mindestlohns durch die Mindestlohnkommission und hat damit eine politikberatende Funktion. Das trägt natürlich auch dazu bei, die politischen Diskussionen zu versachlichen. 

Was sind die Aufgaben der Mindestlohnkommission und wie unterstützen Sie diese?

Wir begleiten Forschungsprojekte zum Mindestlohn und schreiben alle zwei Jahre für die Mindestlohnkommission den Mindestlohnbericht. Meine inhaltlichen Schwerpunkte im Mindestlohnbericht liegen bei Beschäftigung, Arbeitszeit, Preisentwicklung und Wettbewerbsfaktoren. Dafür verwende ich Daten des Statistischen Bundesamtes, mache eigene Auswertungen und fasse auch den aktuellen Forschungsstand zusammen. Die Aufgabe der Mindestlohnkommission ist es, die Auswirkungen des Mindestlohns auf den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Wettbewerbsbedingungen und die Beschäftigung in Bezug auf bestimmte Branchen und Regionen sowie die Produktivität laufend zu evaluieren. Die Kommission fällt dann einen Anpassungsbeschluss über die Höhe des nächsten Mindestlohns und stellt beides – den Bericht und den Anpassungsbeschluss – der Bundesregierung zur Verfügung. Der Weg ist hochpolitisch und häufig mit vielen Kontroversen verbunden.

Wie trifft die Mindestlohnkommission ihre Entscheidungen?

Die Kommission hält sich bei ihrem Beschluss an gesetzliche Vorgaben: Sie soll sich nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientieren. Wenn sich die Tariflöhne in den letzten zwei Jahren um einen bestimmten Prozentsatz erhöht haben, soll das auch die Zielrichtung für den Mindestlohn sein. Neuerdings soll zusätzlich eine Orientierung am Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten erfolgen. Darüber hinaus soll aber eine Abwägung stattfinden, bei der Indikatoren zu Beschäftigung, Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Wettbewerbsindikatoren sowie zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geprüft werden. Dafür werden unsere Forschungsergebnisse gebraucht. 

Deutschland hat erst spät einen Mindestlohn eingeführt. Warum eigentlich?

Das hat einen einfachen Grund: In Deutschland war vor der Wiedervereinigung die Tarifbindung vergleichsweise hoch. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände hatten über Jahrzehnte eine dominante Rolle bei der Lohnfindung in Deutschland. Deswegen war von beiden Seiten der Widerstand gegen einen Mindestlohn groß, weil sie dadurch Macht aus der Hand geben mussten.

Was hat sich dann geändert, so dass der Mindestlohn doch notwendig wurde?

Mit der Tertiarisierung und Globalisierung veränderten sich vor allem der Mittelstand und die Beschäftigtenstruktur, die Tarifbindung ließ nach. Einen politischen Anstoß gaben die Hartz-Reformen. Sie sollten die Arbeitslosenzahl senken, doch die Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vergrößerten den Niedriglohnbereich stark. Deutschland hatte ab den 90er Jahren bis in die 2010er Jahre im europäischen Vergleich einen der größten Niedriglohnsektoren, knapp ein Viertel der Beschäftigten waren davon betroffen (vgl. DIW-Grafik auf S. 22). Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 war letztlich eine politische Reaktion auf diese Entwicklung und sollte die negativen Auswirkungen im unteren Bereich der Lohnstruktur abmildern. 

Wie steht Deutschland derzeit im internationalen Vergleich mit seinem Mindestlohn da?

Deutschland lag bei der Höhe des Mindestlohns lange Zeit im Mittelfeld, spätestens mit der Anhebung auf 12 Euro aber im vorderen Feld. Wichtiger ist aber, was man sich vom Mindestlohn leisten kann – da liegt Deutschland immer im vorderen Drittel, über dem OECD-Durchschnitt.

Es gibt auch eine europäische Mindestlohnrichtlinie. Diese sieht vor, dass der Mindestlohn mindestens 60 Prozent des Medianlohns erreichen soll. Deutschland lag mit 12 Euro an dieser Marke, mittlerweile aber wieder darunter, weil die letzten Mindestlohnerhöhungen nicht mehr so stark ausgefallen sind.

Was sagt die Forschung über den Mindestlohn in Deutschland? Welche Effekte hatte er? 

Die größte Sorge aus politischer Sicht war, wie viele Jobs der Mindestlohn vernichten würde. Allerdings hatte seine Einführung in einer Höhe von 8,50 Euro im Jahr 2015 nur geringe Auswirkungen auf die Gesamtbeschäftigung. Bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung hatte der Mindestlohn überhaupt keine Auswirkungen. Einige Minijobs sind weggefallen oder wurden in sozialversicherungspflichtige Jobs umgewandelt. Der Effekt war, volkswirtschaftlich gesehen, sehr klein.

Aber die Löhne sind gestiegen? Was passiert dann mit den Unternehmen? 

Die Forschung hat gezeigt, dass die Bruttostundenlöhne durch den Mindestlohn angestiegen, aber die Monatslöhne nicht proportional mitgestiegen sind. Wir konnten das vor allem bei der Einführung, aber auch bei der Erhöhung auf 12 Euro beobachten. Das liegt daran, dass Betriebe mit einer Reduzierung von Arbeitszeiten reagiert haben. Das verfügbare Einkommen hat sich also erhöht, aber nicht so stark wie erhofft.

Als dritten wichtigen Punkt konnte die Mindestlohnforschung belegen: Die Betriebe sind recht gut mit dem Mindestlohn zurechtgekommen. Sie haben über Preisanhebungen reagiert, und zum Teil sind ihre Gewinne abgeschmolzen. Es sind zwar einige Kleinstbetriebe aus dem Markt ausgeschieden, aber das wurde politisch nicht großartig negativ bewertet. Die Gewerkschaften beispielsweise urteilten, dass es solche Betriebe betraf, die bisher Lohndumping betrieben haben.

Und hat der Mindestlohn seine Ziele erreicht? Den Niedriglohnsektor reduziert und benachteiligte Gruppen gestärkt?

Die aktuellsten Studien des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen, dass der Mindestlohn den Niedriglohnsektor verkleinert hat – von 23,6 Prozent im Jahr 2007 auf 15,2 Prozent im Jahr 2022 (vgl. DIW-Grafik). Er hat dazu geführt, dass die untersten Löhne angehoben wurden, was positiv auf die Lohnverteilung gewirkt hat. 

Welche Gruppen profitieren besonders?

Der Mindestlohn ist ein Instrument des Arbeitsschutzes. Die klassischen benachteiligten Gruppen – Ungelernte, Frauen, Beschäftigte in ostdeutschen Regionen und Ausländerin-nen und Ausländer – profitieren am stärksten vom Mindestlohn, weil sie häufig niedrigere Löhne haben. Es gibt auch Studien, die mindestlohnbedingte positive Effekte auf den Gender Pay Gap zeigen – der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen hat also abgenommen. 

Natürlich gibt es immer noch Personengruppen mit geringer Macht am Arbeitsmarkt, die benachteiligt werden oder den Mindestlohn nicht in voller Höhe erhalten, etwa ausländische Beschäftigte, die ihre Rechte nicht kennen, oder Saisonarbeiter, die nur zeitweise in Deutschland sind. Es wissen zwar etwa 95 Prozent von ihnen, dass es einen Mindestlohn gibt, aber die genaue Höhe ist deutlich weniger bekannt – insbesondere unter den Beschäftigten mit Niedriglohn.

Auch andere Auswirkungen stehen in der politischen Diskussion, beispielsweise, dass der Mindestlohn nicht bei der Verringerung von Altersarmut hilft. 

Dazu ist er auch gar nicht gedacht. Eine Vielzahl der Mindestlohnempfängerinnen und -empfänger haben eigentlich gar kein finanzielles Problem, weil sie Zweitverdiener in einem Haushalt sind. Meistens zahlt der Erstverdiener so viel Geld in das Haushaltskonto ein, dass es kein Armutsproblem gibt. Wir wissen aber, dass viele der von Altersarmut Betroffenen nur kurze Arbeitsphasen während ihres Lebens hatten oder in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt sind, beispielsweise wegen Kinderbetreuung oder Krankheit. Selbst wenn sie in dieser Zeit einen Stundenlohn von 30 Euro bekommen hätten, wären sie immer noch altersarmutsgefährdet, weil das Arbeitszeitkontingent zu gering ist. Über den Mindestlohn als Instrument trifft man also diese Personengruppe gar nicht, sondern dafür muss es andere sozialpolitische Maßnahmen geben.

Gibt es Erkenntnisse zur Nicht-Einhaltung des Mindestlohns oder ob der Mindestlohn zu informeller Beschäftigung führt, etwa wenn jemand auf dem Papier weniger, faktisch aber mehr arbeitet? 

Die Arbeitszeiten sind bisher in keinem Datensatz gut genug erfasst, um das objektiv beurteilen zu können. Aus qualitativen Studien wissen wir aber, dass manche Beschäftigten davon berichten, dass die Arbeitszeiterfassung die Realität nicht abbildet. Dann wird das Einräumen von Regalen zum Beispiel gar nicht als Arbeitszeit erfasst, sondern erst, wenn die Ladentür aufgesperrt wird. Das ist im Grundsatz schon eine Art Umgehung des Mindestlohns, aber wir können nicht beurteilen, ob es systematisch und flächendeckend passiert.

Mit Kollegen der BAuA haben wir aber eine eigene Studie zur Schwarzarbeit im Zusammenhang mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro durchgeführt und festgestellt, dass diese deutliche Anhebung nicht zu mehr Schwarzarbeit geführt hat.

Und was sagen die Betroffenen und andere Beschäftigte selbst zu diesem Instrument der Lohnpolitik?

Die Zufriedenheit mit dem Mindestlohn war Gegenstand meiner jüngsten Forschung. Wir haben ein Experiment durchgeführt, bei dem wir Menschen verschiedene Szenarien zur Mindestlohnerhöhung vorgelegt und sie nach ihrer Einschätzung zur Gerechtigkeit gefragt haben.

Die größte Überraschung war, dass Mindestlohnerhöhungen dann als ungerechter empfunden werden, wenn nur die Mindestlohnbeschäftigten davon profitieren. Als gerechter wird empfunden, wenn auch andere Beschäftigte Lohnerhöhungen bekommen – sogenannte Spillover-Effekte. Das fanden wir erstaunlich, da wir erwartet hatten, dass es ausreicht, wenn diejenigen mit zu geringen Löhnen mehr bekommen.

Aber kann das überhaupt in der Praxis berücksichtigt werden? 

In der Realität ist es für die Betriebe ökonomisch schwierig, alle Löhne entsprechend anzuheben. Es kommt viel eher zu einer Lohnstauchung, die Lohngitter werden zusammengeschoben. Qualitative Studien zeigen, dass Betriebe dies als Problem sehen, wenn der Lohnabstand der Besserverdienenden zum Niedriglohnsektor sich verringert.

Der Mindestlohn im neuen Koalitionsvertrag

Im neuen Koalitionsvertrag wird auch der Mindestlohn thematisiert: „An einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission halten wir fest. Für die weitere Entwicklung des Mindestlohns wird sich die Mindestlohnkommission im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren. Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“, steht dort. 

Der neue Koalitionsvertrag stärkt damit formal die Mindestlohnkommission. Im Jahr 2022 erhöhte die Ampelregierung nämlich entgegen der im Mindestlohngesetz festgelegten Systematik den Mindestlohn gesetzgeberisch und ohne die Mindestlohnkommission. Auch haben Union und SPD nun die Formulierungen aus der neuen Geschäftsordnung der Kommission übernommen, die mit den neuen Orientierungskriterien eine langjährige Forderung der Gewerkschaften aufgreift, aber auch der Empfehlung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie folgt. Ende Juni 2025 hat die Mindestlohnkommission ihre jüngste Anpassungsentscheidung bekannt gegeben. Der Mindestlohn wird zu Beginn des Jahres 2026 auf 13,90 Euro und zu Beginn des Jahres 2027 auf 14,60 Euro steigen.

Wie hoch ist Ihr Stundenlohn? Finden Sie es mit dem Mindestlohn-Rechner des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales heraus: 

www.bmas.de/mindestlohnrechner

Medianlohn

Der Medianlohn beschreibt den Wert, der die Mitte einer Einkommensverteilung bildet. Der Median entsteht, indem alle Einkommen in eine Reihe sortiert werden. Der Wert in der Mitte gilt als Medianlohn. Er gibt an, dass genau die Hälfte aller Einkommen darüber und die Hälfte darunter liegen. Der Durchschnittslohn, das heißt das arithmetische Mittel, hingegen kann durch hohe Einzelverdienste beispielsweise im Topmanagement künstlich erhöht werden. Der Median wird nicht durch solche Ausreißer verzerrt und zeigt daher häufig niedrigere Werte: Monatlicher Brutto-Medianverdienst 2024 3.978 Euro, Monatlicher Brutto-Durchschnittsverdienst 2024 4.634 Euro. Er dient als Referenzwert für Tarifverhandlungen, Gehaltsvergleiche und politische Entscheidungen.

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Seite 172716, aktualisiert 01.12.2025