Rund um das Thema Arbeitszeit kursieren hartnäckige Annahmen, die unseren Arbeits- und Familienalltag prägen und politische Diskussionen befeuern. Während die einen längere Arbeitszeiten als Lösung für den Fachkräftemangel propagieren, preisen andere die Vorteile flexibler Arbeitsmodelle. Doch was ist dran an den verbreiteten Überzeugungen über Produktivität, Flexibilität und Karrierechancen?

Drei Bamberger Forschende haben diese Mythen wissenschaftlich unter die Lupe genommen. Ihre Erkenntnisse basieren auf umfangreichen Studien, Auswertung von Daten und jahrelanger Forschung. Das Ergebnis ist wenig überraschend: Die Realität ist komplexer als die gängigen Behauptungen vermuten lassen.

Mythos 1: „Längere Arbeitszeiten führen zu mehr Produktivität“ entkräftet
„Forderungen nach höherer Arbeitszeit sind unsinnig, um dem Fachkräftemangel zu begegnen“, stellt der Soziologe Prof. Dr. Olaf Struck, Inhaber der Professur für Arbeitswissenschaft, fest. Arbeitswissenschaftliche Studien zeigen immer wieder, dass verdichtete Arbeitszeiten von über neun Stunden am Tag oder mehr als 40 bis 45 Stunden pro Woche die Gesundheit beeinträchtigen. „Zudem erhöhen sie die Zahl der Fehler und mindern die Gesamtproduktivität, selbst bei eigentlich hoher Arbeitsmotivation.“
Struck hat in jüngster Zeit Berufe in der Pflege, im Warentransport sowie in der Verwaltung und Entwicklung erforscht. Sein Befund: „Wir beobachten, wie dort die Arbeit zeitlich verdichtet wird. Menschen versuchen, jede Minute produktiv zu nutzen.“ Ein Problem entsteht, wenn Unvorhergesehenes passiert: „Ein Kollege ist krank, ein aufgebrachter Kunde oder eine Chefin will unbedingt etwas erledigt haben – dann haben sehr viele Arbeitskräfte hohen Stress. Sie haben keine Ressourcen mehr, ruhig und gelassen zu reagieren. Es explodiert: im Team, im Menschen und oft auch in der Familie.“
Die Folgen sind messbar: Menschen können oder möchten diese Belastung nicht länger ertragen. Psychische Beanspruchungen haben zugenommen, oft auch der Krankenstand. Beschäftigung in Teilzeit bringt mehr Regeneration und Ruhe. Besonders in Berufen mit hoher körperlicher oder psychischer Belastung, „etwa durch hohe Verantwortung oder großes und flexibles Reaktionsvermögen in jeder Minute der Arbeitszeit“, entscheiden sich Beschäftigte für mehr freie Zeit zur Regeneration, sofern sie es sich finanziell leisten können. „Sie wollen vermeiden, dass ihnen Fehler passieren, ihre Unzufriedenheit fortbesteht oder sie ausbrennen.“
Strucks Forschung zeigt auch die praktischen Grenzen längerer Arbeitszeiten auf: Wenn Menschen bereits mit acht Stunden täglich überarbeitet sind, führt weitere Verdichtung nur zu mehr Problemen. „Nicht alle Menschen können oder wollen sich mit weniger Arbeit zurückziehen. Es wäre produktiv, diese Beschäftigten besser zu unterstützen.“
Auch bei der viel diskutierten 4-Tage-Woche zeigt sich: Produktivitätsgewinne entstehen nicht durch mehr, sondern durch bessere Arbeitszeit. „In der Praxis wird eine 4-Tage-Woche zumeist aus Attraktivitätsgründen eingeführt“, erklärt Struck, weniger mit Fokus auf Arbeitsleistung und -qualität. Sie funktioniert nur dann, wenn es noch sogenannte Produktivitätsreserven gibt, also wenn Arbeit effizienter gestaltet werden kann. Bei Handwerkern, die Außentermine haben, bringt der Freitag oft wenig, weil sie für nur wenige Stunden nicht extra zur Baustelle fahren. Teilweise kann bei Beschäftigung mit IT durch bessere Software, Automatisierung oder optimierte Abläufe die gleiche Arbeit in weniger Zeit geschafft werden.
„In Branchen, in denen jetzt schon sehr verdichtet gearbeitet wird, etwa in der Industrie oder vielen Dienstleistungen, bedeutet Arbeitszeitreduktion eine Minderung der Wertschöpfung.“ Die Ausnahme: In hochverdichteten Bereichen kann eine 4 Tage-Woche produktiv sein, wenn Beschäftigte erschöpft und oft krank sind. Dann führt die längere Erholung dazu, dass sie in den vier Tagen produktiver sind als vorher in fünf erschöpften Tagen. Struck warnt vor pauschalen Lösungen: Ob sich eine 4-Tage-Woche für ein Unternehmen finanziell rechnet, hängt davon ab, ob man durch bessere Technik, klügere Organisation oder ausgeruhte Mitarbeitende die verlorene Zeit kompensieren kann.
Mythos 2: „Flexible Arbeitszeiten sind immer gut für Beschäftigte“ teilweise bestätigt
Prof. Dr. Maike Andresen, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Personalmanagement und Organisational Behaviour, differenziert: „Wir unterscheiden drei Dimensionen: Erstens die Dauer – also ob jemand Vollzeit, Teilzeit oder reduzierte Vollzeit arbeitet. Zweitens die Lage der Zeit – also wann gearbeitet wird. Dazu zählen etwa Früh-, Spät- oder Nachtschichten, aber auch saisonale Arbeit, Sabbaticals oder die Verlagerung von Arbeitszeit auf weniger Tage, wie bei der Vier-Tage-Woche. Drittens geht es um die Verteilung – also wie gleichmäßig oder ungleichmäßig sich Arbeit über die Woche erstreckt.“
Von Vertrauensarbeitszeit über Gleitzeit bis hin zu arbeitgebergesteuerter Flexibilität beispielsweise durch Abrufbarkeit reicht das Spektrum. Vorteile für die Beschäftigten hängen stark von individuellen Bedürfnissen ab: „Jemand mit Familienverpflichtungen braucht andere Modelle als jemand, der gerade die Karriere aufbaut. Manche arbeiten gut im Homeoffice, andere besser im Büro.“ Deshalb gebe es nicht das eine „beste“ Modell für alle und für jede Lebensphase.
Andresen illustriert dies anhand von Pflegesituationen: „Mit kleinen Kindern ist Teilzeit sinnvoll, um vormittags arbeiten und nachmittags verfügbar sein zu können. Bei der Pflege älterer Angehöriger ist es vielleicht besser, wenn ganze Tage frei bleiben, oder es braucht spontane Flexibilität, wenn etwa der Gesundheitszustand schwankt.“
Nicht alle profitieren also gleichermaßen von Flexibilität. „Auch Alleinstehende haben weniger soziale Kontakte, was zu höherem Stress führen kann. Für sie kann es sinnvoll sein, gezielt Präsenzzeiten zu schaffen.“ Neue Mitarbeitende oder solche in der Einarbeitung brauchen ebenfalls mehr Präsenz, um Kultur und Abläufe kennenzulernen. Ihre Empfehlung: „idiosynkratische Vereinbarungen“ – individuelle Absprachen für eine bestimmte Zeit und mit beiderseitigem Nutzen.
Die Kehrseite der Flexibilität spricht die Professorin auch an: „Wir finden in unseren Messungen, dass mit zunehmender Freiheit auch die Arbeitszeiten steigen, dass also Beschäftigte mit Vertrauensarbeitszeit mehr arbeiten.“ Viele Arbeitgeber hätten Angst, bei Einräumung zu hoher Autonomie ausgenutzt zu werden. „Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall: Die Arbeitszeit entgrenzt sich. Wir sehen, dass Beschäftigte mit festen Arbeitszeiten im Schnitt drei Überstunden pro Woche leisten. Bei Erwerbstätigen mit selbstbestimmten flexiblen Arbeitszeiten steigt dieser Wert auf acht Stunden.“ Besonders hoch ist die Belastung im Modell der Arbeitszeit-Freiheit – hier liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 50 Stunden, bei manchen Gruppen sogar bei mehr als 80 Stunden.
Diese Erkenntnis erfordert ein Umdenken bei Führungskräften, so Andresen: „Wer als Führungskraft flexible Arbeitszeiten ermöglicht, sollte nicht allein die Produktivität im Blick haben, sondern auch die Gesundheit und langfristige Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden – denn nur eine nachhaltige Beschäftigung ist zukunftsfähig.“
Mythos 3: „Teilzeitarbeit ist immer ein Karrierekiller“ teilweise bestätigt
„Grundsätzlich kann man sagen, dass Teilzeitarbeit bei Karrierefaktoren wie Verantwortung im Job, Beförderungsmöglichkeiten oder Führungspositionen zu schlechteren Ergebnissen führt“, erklärt Prof. Dr. Katja Möhring, Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie, insbes. Familie und Arbeit. Forschung zu Karriereverläufen zeigt: Teilzeitbeschäftigte erzielen im Schnitt niedrigere Löhne, auch bezogen auf Stundenlöhne, nicht nur auf das Gesamteinkommen. „Das liegt daran, dass Teilzeitjobs meist in bestimmten Branchen und Bereichen angeboten werden, wo gar nicht die Möglichkeit gegeben ist, den Verdienst über das Erwerbsleben hinweg so stark zu steigern wie bei Vollzeitjobs.“
Das Problem liegt aber auch in verbreiteten Vorstellungen von Führung. Möhring spricht von der Ideal Worker Norm: „Viele glauben, dass Jobs mit Führungsverantwortung nur von Personen gemacht werden können, die in Vollzeit präsent sind und Kontrolle vor Ort ausüben.“ Die Folge: Wir verbinden Produktivität oft damit, dass jemand bis tief in den Abend am Schreibtisch sitzt und Sachen abarbeitet.
Deutschland unterscheidet sich beim Thema Teilzeit deutlich von anderen europäischen Ländern: „In den Niederlanden arbeiten beispielsweise insgesamt mehr Personen in Teilzeit, und auch relativ viele Männer.“ Doch nur rund zwölf Prozent der männlichen Beschäftigten in Deutschland arbeiten in Teilzeit, aber fast die Hälfte der weiblichen. Im europäischen Vergleich haben die Frauen damit eine der höchsten Teilzeitquoten, während Männer in Deutschland eine der niedrigsten haben. Diese Besonderheiten erklärt Möhring so: „Dies kommt aus einer gesellschaftlichen normativen Erwartung – jeder sollte arbeiten gehen und eine eigene Karriere haben. In Deutschland ist es seit den 2000er Jahren die Norm, auch als Mutter zu arbeiten, sobald das Kind etwa zwei bis drei Jahre alt ist.“
Der Ausbau der Kinderbetreuung hat damit nicht Schritt gehalten. Es gibt zwar Kinderbetreuungsplätze, aber oft nur bis 14 Uhr – kaum vereinbar mit einer Vollzeitbeschäftigung. Ein universelles Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit existiert bis heute nicht. „Wir haben in Deutschland ein Recht auf Teilzeit, beispielsweise mit der Brückenteilzeit, aber kein universelles Rückkehrrecht in Vollzeit“, bedauert Möhring. Wenn man sich einmal für die Teilzeit entscheidet, hat man oft auch dann, wenn die Kinder älter sind, gar keine Möglichkeit mehr, in Vollzeit zurückzukehren.
Das wirkt sich negativ auf die Altersvorsorge aus. „Wer in Teilzeitarbeit arbeitet, sammelt weniger Rentenpunkte und kommt im Alter nicht alleine mit dem eigenen Einkommen über die Runden.“ Das deutsche Rentensystem ist stark erwerbsorientiert: „Für jedes Jahr wird ausgerechnet, wie hoch der Verdienst im Vergleich zum Durchschnittsverdienst war, und danach werden die Rentenpunkte berechnet.“
Gesellschaftliche Erwartungen treffen aber nicht nur Frauen im Spagat zwischen Familie und Karriere. „Bei Männern, die Teilzeit arbeiten, kommt das sowohl im Team als auch bei Vorgesetzten oft schlecht an. Wer früher das Büro verlässt, wird schief angeschaut“, so Möhring. Interessant findet sie den Widerspruch zwischen objektiven Nachteilen und subjektiver Wahrnehmung: „Die Arbeitszufriedenheit bei Frauen in Teilzeitarbeit in Deutschland ist tatsächlich etwas höher“, da die Work-Life-Balance einfacher zu handhaben sei.
Flexibilität braucht Rahmen und Reform
Die Bamberger Forschung zeigt: Pauschale Antworten greifen zu kurz. Arbeitszeit muss individuell, lebensphasenorientiert und mit klaren Schutzrahmen gestaltet werden. Maike Andresen plädiert für flexible Optionen: „Wichtig ist, dass Modelle immer wieder neu verhandelt werden.“ Auch gesetzliche Reformen können helfen. Deutschland hat beispielsweise EU-Vorgaben sehr restriktiv umgesetzt: „Die EU erlaubt bis zu 48 Stunden Arbeit pro Woche, während Deutschland noch standardmäßig mit dem Acht-Stunden-Tag von 1918 arbeitet“, so Andresen. Auch die Pflicht zur Sonntagsruhe könne man überdenken: „Die EU schreibt lediglich vor, dass es einen Ruhetag pro Siebentageszeitraum geben muss – welcher Tag das ist, bleibt offen.“ Auf betrieblicher Ebene empfiehlt sie, „nicht alles über Betriebsvereinbarungen zu regeln. Diese standardisieren zu stark. Besser sind individuelle Abspra-chen – je nach Aufgabe, Lebensphase und Persönlichkeit.“
Katja Möhring sieht besonders das Ehegattensplitting als problematisch, denn steuerlich wird ein Anreiz für einen großen Einkommensunterschied geschaffen: „Hier wäre eine Reform hin zu einem Familiensplitting sinnvoll, das Familien mit Kindern entlastet, aber nicht das Verheiratetsein allein belohnt. Gerade in Zeiten von Fachkräftemangel kann man es sich nicht leisten, so stark zu belohnen, dass jemand sein Arbeitspotenzial nicht ausschöpft.“ Neben einem universellen Rückkehrrecht in Vollzeit müsse auch „ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden. Wir haben uns so sehr auf das Modell einer Vollzeit- und einer Teilzeiterwerbstätigkeit eingerichtet – das ist normativ am meisten akzeptiert und funktioniert am besten mit der Organisation von Kinderbetreuung und Schule.“
„Einfache Lösungen sind oft Populismus“, fasst Olaf Struck zusammen. „Wir müssen immer genau prüfen, auch bei Flexibilisierung oder Ausweitung von Arbeitszeit oder der 4-Tage-Woche.“ Die Wissenschaft liefert dafür die nötigen Erkenntnisse – differenziert, evidenzbasiert und jenseits von Mythen und Ideologie. Nur so lassen sich Arbeitsmodelle entwickeln, die sowohl produktiv als auch menschlich sind.

Lesetipps
Schmierl, K.; Schneider, P.; Struck, O.; Ganesch, F. (2022): Digitale Logistik – Digitalisierungstechnik, Arbeitsbedingungen, Leistungspolitik und Mitbestimmung in Transportlogistik und Kurier-, Express- und Paketdiensten. Study der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 477, Düsseldorf.
Senghaas, M.; Struck, O. (2023): Arbeits- und Personalsituation in Pflegeberufen. Qualitative Befunde. IAB Forschungsbericht 8/2023, Nürnberg.
Hiemer, J., & Andresen, M. (2019). “Because work time is lifetime” – Employees’ perceptions of individual overemployment, its causes and its consequences. Frontiers in Psychology, 10(1920).
Imhof, S., & Andresen, M. (2017). German temporary agency workers‘ subjective well-being: The impact of perceived organizational support provided by agencies. Employee Relations, 39(7), 1030–1047.
Möhring, K., & Weiland, A. P. (2022). Couples’ Life Courses and Women’s Income in Later Life: A Multichannel Sequence Analysis of Linked Lives in Germany. European Sociological Review, 38(3), 371–388.
Reifenscheid, M., & Möhring, K. (2023). Towards a new working time paradigm? Public support for trade union demands for working time reduction. Industrielle Beziehungen, 29(3+4), 186–210.