Professor zu werden war nicht immer das ausgegebene Ziel von Dr. Christian Ledig, seit 1. April 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Erklärbares Maschinelles Lernen. Warum er sich doch entschieden hat, sich an der Universität Bamberg zu bewerben, zu welchen Schwerpunkten er forscht oder was ihn am Anwendungsbereich Medizin begeistert, erläutert er im Interview.
Lieber Herr Ledig, Sie waren fast 10 Jahre in der freien Wirtschaft tätig. Warum wechseln Sie nun an eine Universität?
Christian Ledig: Ich arbeite gerne an Lösungen, die einen positiven Effekt für den Menschen oder die Gesellschaft haben. Deshalb ist wissenschaftliche Forschung für meine Arbeit essenziell. Andererseits bereitet es mir große Freude, Wissen nicht nur anzuwenden, sondern auch weiterzugeben. Als Inhaber des Lehrstuhls für Erklärbares Maschinelles Lernen kann ich Studierenden die Chance geben, Expertise im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) zu erwerben, die akkurat, aktuell und wettbewerbsfähig ist. Darüber hinaus einen Beitrag zu der Technologietransformation meiner Heimatregion zu leisten, empfinde ich ebenfalls als großes Privileg.
Sie kommen also aus Bamberg?
Tatsächlich habe ich die ersten 25 Jahre meines Lebens größtenteils in Franken verbracht. Ich bin in Nürnberg geboren, im Landkreis Forchheim aufgewachsen und habe in Erlangen an der Friedrich-Alexander- Universität Technomathematik studiert. Danach habe ich zehn Jahre im Ausland gelebt, was mir einen ganz neuen Blick auf die Region ermöglicht hat. Oberfranken als großer Zulieferstandort für die Automobilbranche aber auch die Medizintechnik steht vor enormen Herausforderungen. Für die Bedarfe der zahlreichen mittelständischen Unternehmen, die die Region prägen, Lösungen zu entwickeln und sie mit internationalen Kooperationspartnern zu vernetzen, sind Aufgaben, auf die ich mich sehr freue.
Welcher Weg hat Sie an die Universität Bamberg geführt?
Über Siemens in Forchheim bin ich dem aufregenden Angebot gefolgt, meine Diplomarbeit bei Siemens Corporate Research in Princeton, USA, zu schreiben. Dort habe ich meine Leidenschaft für die medizinische Bildanalyse entdeckt und dieses Fachgebiet im Rahmen meiner Promotion am Imperial College in London vertieft. Nach Tätigkeiten bei Twitter in London und zwei US-Start-Ups, eines in Manhattan, New York, und eines in Boston, Massachusetts, erschien mir die Herausforderung, in Bamberg zu dem Ausbau eines in Forschung und Lehre exzellenten KI-Standorts beizutragen, perfekt. Ich freue mich sehr über das Vertrauen und die Möglichkeit, heute hier zu sein.
Ein großer Dank an dieser Stelle für die durchwegs freundliche Unterstützung und große Hilfsbereitschaft in meinen ersten Wochen und Monaten an der Universität Bamberg. Es ist schön, Teil einer Universität zu sein, an der tatsächlich noch der Mensch im Mittelpunkt zu stehen scheint. Alles andere als eine Selbstverständlichkeit in einer Gesellschaft, in der häufig dem Leistungsprinzip alles bedingungslos untergeordnet wird.
Zu welchen Schwerpunkten forschen Sie?
Das übergeordnete Thema der Forschung am Lehrstuhl ist die Entwicklung von robusten, also generalisierbaren, interpretierbaren und daten-effizienten Methoden zur Analyse von Bilddaten. Hier liegt der Schwerpunkt explizit auf tiefen neuronalen Netzen (Deep Learning). Ein wichtiger Anwendungsbereich ist die KI-basierte Analyse von medizinischen Daten. Wir entwickeln beispielsweise Methoden, welche die menschlichen Gehirnstrukturen anhand von MRT-Bildern vermessen. Damit können wir unter anderem den Entwicklungsprozess des Gehirns bei Neugeborenen quantifizieren, den natürlichen Alterungsprozess dokumentieren oder krankhafte Veränderungen sichtbar machen – beispielsweise bei Demenz vom Typ Morbus Alzheimer oder traumatischen Kopfverletzungen.
Können Sie ein Anwendungsbeispiel aus der Medizin nennen, das verdeutlicht, warum Generalisierbarkeit von Daten im Bereich KI so ein wichtiges Thema ist?
KI-Systeme können beispielsweise Radiologinnen und Radiologen bei der Bewertung von Bildern unterstützen und so genauere und schnellere Diagnosen ermöglichen. Für einen Patienten mit Verdacht auf eine Rippenfraktur kann das zum Beispiel bedeuten, dass das KI-System auf dem Röntgenbild nicht nur die vermutete gebrochene Rippe, sondern auch eine schwer erkennbare, verdächtige Masse in der Lunge detektiert – und so die lebensrettende Behandlung einer Krebserkrankung im Frühstadium ermöglicht. Derartige KI-Systeme haben häufig sehr überzeugende Leistungscharakteristiken, wenn sie in dem Umfeld oder dem Krankenhaus, für das sie entwickelt wurden, evaluiert werden. Leider generalisieren diese Systeme oft schlecht.
Was bedeutet das?
Wenn es zu Unterschieden in Bildqualitäten und Bildeigenschaften zwischen verschiedenen Krankenhäusern kommt, auch wenn diese für das menschliche Auge klein sind, kann sich die Leistung eines KI-Systems maßgeblich verschlechtern, so dass der lebensbedrohliche Tumor möglicherweise nicht mehr korrekt erkannt wird. Wir arbeiten an Methoden, die sicherstellen, dass KI-Systeme vergleichbare Leistungscharakteristiken aufweisen, unabhängig von dem Krankenhaus, dem Röntgensystem oder der Patientenpopulation, in der sie angewendet werden.
Warum fasziniert Sie der medizinische Anwendungsbereich so sehr?
Bei beiden Start-Ups in den USA habe ich KI-Algorithmen für Geräte mitentwickelt, die von der amerikanischen Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde (FDA) reguliert wurden, also hohen Qualitätsstandards entsprechen. Sie unterstützen medizinisches Fachpersonal bei der Interpretation von Röntgenbildern und reduzieren somit die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen signifikant. Dabei trieb mich insbesondere die Vorstellung an, dass diese Algorithmen das Potential haben, die Diagnosen von Tausenden, ja Millionen von Patienten zu verbessern. Zudem können sie medizinische Expertise in Regionen der Welt bringen, in denen keine top-ausgebildeten Fachkräfte verfügbar sind.
Welche Anknüpfungspunkte sehen Sie mit Einrichtungen und Disziplinen außerhalb des medizinischen Bereichs, speziell an der Universität Bamberg?
Wir arbeiten an robusten und interpretierbaren Algorithmen zur gesamtheitlichen Analyse von Bilddaten. Diese Forschungsergebnisse sind nicht auf den medizinischen Bereich begrenzt und finden durchaus Anwendungen in der Industrie, beispielsweise zur Qualitätssicherung.
Ich könnte mir auch gut vorstellen, in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Geistes- und Kulturwissenschaften historisches Bildmaterial oder Dokumente durch KI-basierte Methoden zu katalogisieren und qualitativ aufzubereiten.
Was ist Ihnen im Umgang mit Menschen und in der Lehre besonders wichtig?
Ich bin ein starker Befürworter von offener, ehrlicher und dialogischer Kommunikation, die den Studierenden, meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mir dabei hilft, kontinuierlich zu wachsen. Ich bin kein Orakel, das nie irrt, und für Fakten gibt es Bücher und Lexika. Vielmehr möchte ich gemeinsam mit den Studierenden Herangehensweisen, Prozesse und Erfahrungen teilen, diskutieren und ausbauen. Fairness ist mir dabei sehr wichtig, Inklusion ebenso. Ich möchte ein Lehr- und Forschungsumfeld leben, in dem es keinen Platz für jegliche Form der Diskriminierung gibt und der Mensch als Individuum respektiert und akzeptiert wird.
Vielen Dank für das Interview!