Gibt man die Stadt „Sumy“ in die Google-Bildersuche ein, so erscheinen neuerdings nicht mehr nur Bilder der barocken Christi-Auferstehungs-Kirche, des Tschechow-Museums, der pittoresken Dreifaltigkeitskathedrale, des regionalen Kunstmuseums oder des Altanka Pavillons. Es erscheinen vor allem Bilder vom Angriffskrieg der russischen Föderation auf die Ukraine: zerstörte Gebäude, Panzer, Straßensperren, flüchtende Menschen. Unter ihnen waren Mariia und Anastasiia Hartsunova, die aus Sumy, im Nordosten der Ukraine, stammen. Die Zwillinge machten sich kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine auf den Weg ins Ungewisse.
Die ungefähre Fluchtroute von Anastasiia und Mariia ist in der Karte zu sehen:
Mitten in der Nacht entschieden sich die Zwillinge zu fliehen
„Wir waren ungefähr elf Tage unterwegs“, berichtet Mariia. Mit dem Auto, der Bahn und mit dem Bus oft bei Minusgraden und Schnee von Sumy im Nordosten der Ukraine, nur rund 40 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt, über Winnyzja südwestlich von Kyjiw und über Lwiw an die ukrainisch-polnische Grenze. Allein für die 70 Kilometer von Lwiw an die Grenze brauchten sie einen ganzen Tag. Im Gepäck hatten die Zwillinge Wasserflaschen, Lebensmittel, Medikamente, ihre wichtigsten Unterlagen, zwei Pullover und eine Jeans pro Person. Die Entscheidung für die Flucht trafen sie in der Nacht vom 3. auf den 4. März gemeinsam mit ihren Eltern im Keller einer Schule, in dem sie sich versteckten. In dieser Nacht war der Himmel rot erleuchtet – von den Bomben, vor denen die Menschen Schutz suchten. „Wir kamen uns vor wie Charaktere in einem Film“, erinnert sich Mariia. Die russischen Soldaten hatten zu diesem Zeitpunkt schon die Infrastruktur in der Stadt lahmgelegt. Es gab kein fließendes Wasser mehr, keinen Strom und die Heizungen funktionierten nicht. „Wir wussten nicht, was als nächstes geschehen würde. Und so entschieden wir uns für die Flucht“, erzählt Anastasiia. Bis Lwiw kamen auch ihre Eltern mit.
Oft versteckten sich Mariia und ihre Schwester
Immer wieder mussten sie unterwegs an Straßensperren anhalten, an denen ukrainische Polizist*innen die fliehenden Menschen befragten und durchsuchten, um russische Spione, die sich unter ihnen befinden könnten, zu enttarnen. Immer wieder mussten die beiden ihren Weg unterbrechen und sich verstecken, wenn die Sirenen aufheulten. Nachts gab es eine Ausgangssperre und alles war stockdunkel, damit russische Angreifer die Städte von der Luft aus schlechter ausmachen können. „Wir fühlten uns wie die Maus im Käfig“, sagt Anastasiia. In Winnyzja etwa versteckten sich Anastasiia und Mariia in einer Unterführung des örtlichen Bahnhofs, weil Gerüchte um einen bevorstehenden Bombenanschlag kursierten, nachdem bereits der lokale Flughafen an diesem Tag zerstört worden war. „Wir waren ständig in Gefahr und konnten selten gesicherte Informationen bekommen, weil der Strom und das Internet häufig ausfielen“, erinnert sich Mariia. Am Bahnhof ging es chaotisch zu und nach kurzem Überlegen stiegen Anastasiia und Mariia doch in den überfüllten Zug nach Lwiw.
Nur noch Süßigkeiten und Kaugummi im Supermarkt
Die Ankunft in Polen war für die 21-jährigen Studentinnen eine Überraschung. „In der Ukraine hatten wir zwar davon gehört, dass die ganze Welt uns hilft, aber wirklich gesehen haben wir davon nichts“, erklärt Anastasiia. Zu diesem Zeitpunkt waren kaum Helfer*innen direkt in der Ukraine. An der Grenze jedoch erwartete die zwei ein schier unglaubliches Bild: „Es waren so viele freiwillige Helferinnen und Helfer da. Es gab Sandwiches, Kleidung, Kaffee, Hygieneartikel und vieles mehr“, erinnert sich Mariia. Am meisten hätten die beiden den Krieg zuvor in den Supermärkten gespürt. Sie standen an manchen Tagen stundenlang in der Schlange, um Lebensmittel zu kaufen. „Als wir an der Reihe waren, gab es manchmal nur noch Süßigkeiten und Kaugummi“, blickt Anastasiia zurück. Umso mehr freuten sie sich über die Stärkung an der Grenze. Mit der Hilfe eines Freundes aus Niedersachsen kamen sie und ihre Schwester nach Deutschland. Der Freund holte sie mit dem Auto in Krakau ab und fuhr mit ihnen nach Bamberg.
Erst Corona, dann der Krieg – Mariia wollte schon vergangenes Jahr nach Bamberg
Müde und erschöpft erreichen sie nach elf Tagen der Flucht Bamberg. „Eigentlich wollte ich ja schon viel früher nach Bamberg kommen“, sagt Mariia, die bereits vergangenen Sommer einen Germanistik-Studienplatz für ein Auslandssemester an der Otto-Friedrich-Universität bekommen hatte. Doch dann bekam sie Corona. Mit den Nachwirkungen hatte Mariia lange zu kämpfen: Fast jeden Tag musste sie über mehrere Monate hinweg für Untersuchungen und Behandlungen ins Krankenhaus und regelmäßig Medikamente einnehmen. „In diesem Zustand konnte ich nicht nach Deutschland reisen“, erklärt Mariia. „Ich habe viel geweint, weil ich sehr traurig darüber war.“ Der Leiter des Auslandsamtes der Universität Bamberg, Dr. Andreas Weihe, hatte Verständnis und bot an, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt nach Bamberg kommen könne. „Das war für mich wie ein Wunder.“ Mariia konnte ihr Stipendium behalten und kann es jetzt für die Zeit in Deutschland nutzen. Die Universität stellte den Geschwistern das neue Internationale Gästehaus zur Verfügung, in dem sie nach der Flucht mehrere Tage lebten, bevor sie in ein Studentenwohnheim umzogen.
Mariia ist eine von mehr als 100 ukrainischen Studierenden, die derzeit an der Otto-Friedrich-Universität eingeschrieben sind. Ihre Schwester Anastasiia hat in der Ukraine Kunst studiert und als Zeichnerin für eine Firma gearbeitet, die Videospiele entwickelt. Für sie hat die Universität Bamberg aufgrund ihrer Fächerauswahl zwar kein passendes Studienangebot, sie nimmt aber an den Deutsch-Intensivkursen teil, die das Sprachenzentrum speziell für ukrainische Studierende anbietet. Ihre Heimatuniversität in der Ukraine bietet Online-Kurse an, sodass sie ihren Abschluss von Bamberg aus machen kann. Andreas Weihe hat den beiden vor und nach der Ankunft in der Welterbestadt viel geholfen, wie die Zwillinge im Gespräch immer wieder betonen. Etwa den Umzug vom Gästehaus ins Studentenwohnheim haben sie mit seinem privaten Auto gemacht. „Herr Weihe war so verständnisvoll“, erzählt Mariia.
Jeden Tag telefonieren Anastasiia und Mariia mit ihren Eltern.
Inzwischen haben die Zwillinge auch schon so etwas wie einen Alltag hier gefunden: Sie treffen sich mit Freund*innen, besuchen ihre Kurse an der Universität und gehen viel spazieren. „Routinen sind wichtig für die psychische Gesundheit“, meint Anastasiia. „Wir versuchen wieder die kleinen Dinge zu genießen. Zum Beispiel die Blumen am Straßenrand oder die Vögel in den Bäumen. Es ist so friedlich hier.“ „Wenn du alles verloren hast, dann weißt du diese Kleinigkeiten umso mehr zu schätzen“, ergänzt Mariia. Jeden Tag telefonieren die beiden mit ihren Eltern, die jetzt in Lwiw leben und ihrer Oma, die in Sumy geblieben ist. Ihre Mutter möchte die Ukraine nicht verlassen, weil sie ihren Mann nicht alleine lassen will, der wahrscheinlich zur Armee gehen würde, wenn sie nicht mehr da wäre. Zwei Cousinen sind inzwischen auch wohlbehalten mit ihren Kindern in Deutschland angekommen. „Allen aus unserer Familie geht es soweit gut“, sagt Mariia.
Nach dem Krieg möchten die Zwillinge zurück in die Ukraine.
„Wir sind so dankbar für alles, was wir hier bekommen und für die Hilfsbereitschaft. Bamberg ist eine kleine Stadt und wir hatten keine großen Erwartungen als wir hierhergekommen sind. Aber es gibt so viele Angebote für die Menschen aus der Ukraine. Das ist unglaublich“, freut sich Mariia. Die beiden möchten jetzt auch selbst mit anpacken. Mariia gibt etwa Online-Deutschkurse für ukrainische Kinder. Kürzlich hat sie auch eine ukrainische Familie zum Zahnarzt begleitet, um zu übersetzen. Nach dem Krieg möchten Mariia und Anastasiia aber zurück in die Ukraine. „Die Ukraine ist zwar nicht so reich wie die Länder in der Europäischen Union, aber wir hatten ein gutes und friedliches Leben“, sagt Anastasiia. „Ich hatte einen Job und wir hatten so viele Pläne für die Zukunft.“ Die Zwillinge wollten beide dieses Jahr ihr Studium abschließen und gemeinsam nach Kyjiw ziehen. Sogar die Abschlussparty vom Studium war schon geplant. Dann hat der Krieg ihre Pläne durchkreuzt.