Prof. Dr. Gesine Mierke ist bereits seit Oktober 2022 an der Otto-Friedrich-Universität. Zunächst hat sie die Professur für Germanistische Mittelalterforschung vertreten. Prof. Dr. Seraina Plotke, ihre Vorgängerin, war im Oktober 2020 verstorben. Seit Beginn des Jahres hat Gesine Mierke nun die Professur für Germanistische Mittelalterforschung mit Schwerpunkt Digital Humanities & Neue Medien inne. Als Mediävistin ist es ihr leichtgefallen, sich in der mittelalterlich geprägten Stadt Bamberg einzuleben, wie sie im Interview erzählt. Sie freut sich vor allem auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Bamberger Wissenschaftler*innen und sieht bereits jetzt zahlreiche Anknüpfungspunkte. Welche Forschungsprojekte sie mit nach Bamberg gebracht hat, was die Studierenden in ihren Kursen erwarten können und was das Mittelalter mit der Gegenwart zu tun hat, verrät sie im Gespräch.
Seit Oktober 2022 waren Sie Vertretungsprofessorin und jetzt haben Sie die Professur für Germanistische Mittelalterforschung mit Schwerpunkt Digital Humanities & Neue Medien an der Universität Bamberg inne. Hatten Sie vorher schon Verbindungen zu Bamberg?
Gesine Mierke: Ich bin Mediävistin, wurde an der Universität Greifswald promoviert und war anschließend an der Technischen Universität Chemnitz. Und da kennt man Bamberg natürlich, weil es sich um so eine besondere mittelalterliche Stadt und um ein bedeutendes Weltkulturerbe handelt. Außerdem gibt es seit vielen Jahren ein interdisziplinäres Oberseminar in Zusammenarbeit der Universitäten Bamberg, Bayreuth, Chemnitz, Gießen und Karlsruhe. Erst Anfang Januar 2023 fand in diesem Rahmen wieder unser großes jährliches Kolloquium statt – und zwar in Bamberg. Mein Fach ist im Vergleich zu anderen verhältnismäßig klein, weshalb man viele der Kolleg*innen kennt. Deshalb hatte ich bereits vorher einen Bezug zu Bamberg und war schon häufiger hier.
Wie war Ihr erster Eindruck von der Stadt und der Universität?
Für eine Mediävistin ist Bamberg eine wunderbare Stadt, sodass es mir nicht schwergefallen ist, anzukommen, mich schnell wohl und willkommen zu fühlen. Die Erforschung des Mittelalters spielt an der Universität eine wichtige Rolle, wie der Forschungsschwerpunkt „Kultur und Gesellschaft im Mittelalter“ zeigt. Damit ist die Beschäftigung mit der Kultur und Literatur des Mittelalters in gewisser Weise selbstverständlich. Außerdem gibt es in Bamberg vor allem mit dem seit vielen Jahren etablierten Zentrum für Mittelalterstudien – und das ist für mich ein großer Gewinn – vielfältigste interdisziplinäre Anknüpfungspunkte und interessante Kooperationsmöglichkeiten.
Stichwort Interdisziplinarität: Mit welchen Fächern können Sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen?
Bisher habe ich häufig mit Kunsthistoriker*innen und Historiker*innen zusammengearbeitet. Diese Möglichkeiten sehe ich auch an der Universität Bamberg. Darüber hinaus könnte ich mir gut vorstellen, mit der Theologie, der Informatik oder auch der Archäologie zusammenzuarbeiten. Das wird sich mit der Zeit ergeben.
Wo liegen Ihre eigenen Forschungsschwerpunkte?
Gegenwärtig beschäftige ich mich in einem interdisziplinären Netzwerk, das ich gemeinsam mit einem Historiker der Technischen Universität Chemnitz koordiniere, mit Lautsphären des Mittelalters. Dieser Forschungsverbund wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bis 2025 gefördert. Im Netzwerk arbeiten Kolleg*innen ganz unterschiedlicher Fächer, wie zum Beispiel der Byzantinistik, der Latinistik, der Musikwissenschaft oder der Kunstgeschichte zusammen. Wir haben die Möglichkeit, uns in verschiedenen wissenschaftlichen Veranstaltungen über akustische Phänomene auszutauschen, Tagungen und Workshops gemeinsam durchzuführen. Eine Veranstaltung wird im Frühjahr 2024 auch in Bamberg stattfinden.
Was kann man sich unter Lautsphären des Mittelalters vorstellen?
Grundsätzlich ist die Beschäftigung mit ‚Lautsphären‘ methodisch nicht ganz unproblematisch, denn das Mittelalter ist natürlich verklungen. Das heißt, dass wir uns die Klangwelten des Mittelalters nur medial vermittelt über Texte, Bilder, Artefakte erschließen können. Über diese Medien versuchen wir die Semantik von Klängen zu verstehen und herauszufinden, welchen Stellenwert und welche Funktion das Auditive beispielsweise in der Literatur hatte. Es geht also weniger darum zu fragen, wie etwa dieses oder jenes Instrument tatsächlich klang, als vielmehr darum, welche Bedeutung der Klang für die Kultur und in der Kultur in seinem jeweiligen Kontext hatte und welche semantischen Felder dahinterstehen. Ich schaue mir vor allem Texte an und frage: Welche Funktion haben akustische Phänomene in Texten? Welche Rolle spielen sie auf der Handlungsebene? Und welche Wirkung haben sie auf die Rezipient*innen?
Können Sie von weiteren Schwerpunkten erzählen?
Ich interessiere mich auch für das Erzählen von Geschichte und beschäftige mich speziell mit chronistischen Texten. Derzeit erarbeite ich gemeinsam mit einem Kollegen aus der Geschichtswissenschaft eine digitale Edition einer mittelalterlichen Chronik. Es geht dabei vor allem darum, den Text auch für ein breites Publikum zu erschließen. Der große Vorteil digitaler Editionen ist ja grundsätzlich, dass man auf alle Handschriften zugreifen kann. Für ein Buch trifft man immer eine Auswahl. Auch dieses Projekt ist interdisziplinär ausgerichtet, denn wir fragen aus literatur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive nach der Darstellung von historischen Ereignissen und der Konstruktion von Geschichte. Welche literarischen Motive und intertextuellen Verweise werden verwendet, um Geschichte zu erzählen? Unsere Ergebnisse wollen wir in einem interdisziplinären Kommentar aufbereiten.
Grundlage von allem ist aber die Beschäftigung mit der Überlieferung und der Edition der Literatur des Mittelalters. In diesem Zusammenhang geht es mir auch darum, digitale Techniken anzuwenden, um Editionen zu erarbeiten oder Datenbanken zu erstellen, um die mittelalterliche Literatur zu erschließen und Deutungen anschließen zu können. Das passt auch gut in den Forschungsschwerpunkt „Digitale Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften“ an der Universität Bamberg. Ich denke, dass diese Techniken langfristig in die Ausbildung der fachwissenschaftlichen Studierenden und der Lehramtsstudierenden einfließen sollten, damit sie ihre Kompetenzen im Bereich des Digitalen erweitern können.
Wie gelingt es Ihnen, die Techniken des Digitalen an die Studierenden zu vermitteln?
Derzeit biete ich gemeinsam mit Kolleg*innen aus der Geschichtswissenschaft und den Digital Humanities ein Seminar an, in dem wir gemeinsam mit Studierenden die digitale Edition eines mittelalterlichen Textes erarbeiten. Dieses Lehr-Lernprojekt habe ich schon an der TU Chemnitz verfolgt und setze es hier in interuniversitärer Zusammenarbeit – und jetzt auch mit Bamberger Studierenden – fort. Am Ende wollen wir den Text einerseits digital edieren, aber auch als Buch präsentieren. Die Studierenden können so die einzelnen philologischen Schritte kennenlernen und nachvollziehen. Von der Transkription über die Erschließung des Textes bis zum fertigen Buch, und sie werden zugleich in die Möglichkeiten der digitalen Edition eingeführt.
Was ist Ihnen darüber hinaus in der Lehre wichtig?
Einerseits möchte ich den Studierenden philologische Grundfertigkeiten vermitteln. Andererseits ist es mir wichtig, anwendungsorientiert zu lehren. Dabei möchte ich auch zeigen, dass man Wissen über die Gegenwart erwerben kann, wenn man sich mit der Literatur des Mittelalters beschäftigt, weil sie Teil unserer Kultur ist. Ich versuche dementsprechend beides miteinander zu verbinden, also die Aktualität des Mittelalters in der Gegenwart herauszustellen. Oder anders ausgedrückt: Die Gegenwart der Vergangenheit zum Gegenstand zu machen. Das Mittelalter spielt auch in der Moderne eine wichtige Rolle. Man muss nur ins Theater gehen, sich Filme anschauen oder Kinderbücher lesen. Häufig wird auf mittelalterliche Stoffe und Motive zurückgegriffen. Vor allem für den akademischen und den schulischen Unterricht ist deshalb die Beschäftigung mit der Rezeption des Mittelalters, wie sie in Bamberg bereits lange Gegenstand in Forschung und Lehre ist, ein wichtiges Feld. Man kann die Studierenden da abholen, wo sie sind, ihr Interesse wecken und ihnen zeigen, dass mittelalterliche Texte gar nicht so weit von ihnen weg sind, wie sie zunächst vielleicht denken.
Warum sollte man heute Ihr Fach Studieren?
Weil es ganz wichtig ist, sich mit der eigenen Kultur und Geschichte auseinanderzusetzen. Anhand mittelalterlicher Literatur kann man exemplarisch Veränderungsprozesse in der Gesellschaft und Kultur aufzeigen und über Themen der Gegenwart nachdenken.
Vielen Dank für das Interview!