Wenn in der Heimat Krieg herrscht…

Yustyna Koval über Ohnmachtsgefühle, Zusammenhalt und eine neue Realität

Yustyna sortiert Kleiderspenden
  • Menschen
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  • 13.06.2023
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  • Stephanie Fröba
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  • Lesedauer: 7 Minuten

Wir haben uns im März mit der Ukrainischen Masterstudentin Yustyna Koval (23) getroffen. Sie studiert seit November 2021 Literatur und Medien in Bamberg und engagiert sich ehrenamtlich in dem Verein Bamberg:UA. Sein Engagement hat sich seit dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine im Februar 2022 komplett verändert. Wo man vorher vor allem kulturelle Projekte auf die Beine stellte und den Austausch von Ukrainer*innen in Bamberg förderte, versucht man jetzt humanitäre Hilfe in den Kriegsgebieten zu leisten und medizinische Spenden zu organisieren und zu transportieren. Die 23-jährige Yustyna ist verantwortlich für den Social-Media-Auftritt von Bamberg:UA, also für einen wichtigen Teil der Kommunikation nach außen. Uns hat sie vor ein paar Monaten kurz vor ihrem letzten Heimatbesuch in Lwiw nicht nur Einblick in das Vereinsengagement gegeben, sondern auch von ihrem zu Hause aus viel Persönliches erzählt – davon, wie es sich anfühlt, wenn in der eigenen Heimat Krieg herrscht …

Wie geht es Dir seit Kriegsausbruch?

Yustyna Koval: Die ersten Monate seit dem Beginn der Invasion waren für mich emotional am schwierigsten. Gedanklich war ich in meinem Land, aber ich fühlte mich machtlos, weil ich physisch im Ausland war. In Bamberg blühte zu dieser Zeit der Frühling, die Sonne schien, die Menschen gingen mit ihren Kindern spazieren, speisten auf Sommerterrassen, aßen Eis und lachten. Und ich hatte im Kopf schreckliche Bilder aus Bucha, Irpin, Mariupol und im Herzen – Schmerz für jede Familie, die ihr Zuhause verlor, für jedes Kind, dem seine Kindheit, seine Gesundheit und seine Eltern geraubt wurden ... Es war meine ehrenamtliche Arbeit im Verein, die mir geholfen hat, die schlimmsten Zeiten zu überstehen, denn in jeder Sekunde, in der ich mich in irgendeiner Weise für die Ukraine-Hilfe engagierte, versank ich nicht in Verzweiflung und Machtlosigkeit.

Wie hat der Krieg deine Familie und deine Freunde verändert?

Als die Großinvasion begann, zeigten sich viele meiner Freunde und Verwandten mir gegenüber von einer neuen Seite. Natürlich waren alle zunächst erschüttert, denn trotz der vielen Signale, die darauf hindeuteten, dass die russischen Truppen in einem plötzlichen Manöver versuchen würden, das gesamte ukrainische Staatsgebiet zu besetzen, hofften wir immer noch auf das Beste. Als ich jedoch einige Stunden nach Beginn der Invasion mit meiner Familie telefonierte, hatten sie einen Notfallrucksack mit allem Nötigen bereit, sie waren gut darüber informiert, wie sie sich in kritischen Situationen verhalten sollten, und sie wussten, wo sich die Bombenschutzräume befanden.

Seit den ersten Kriegstagen hat sich fast jeder, den ich aus der Ukraine kenne, ehrenamtlich engagiert, und Lwiw ist zu einer Art humanitärem Zentrum geworden. Meine Heimatstadt liegt im Westen der Ukraine, sodass es hier relativ sicher ist im Vergleich zu Regionen, die näher an der Front liegen. So wurde beispielsweise meine ehemalige Schule zu einer vorübergehenden Unterbringungsstätte für Flüchtlinge, wo Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen die Menschen mit Lebensmitteln und dem Nötigsten versorgten. Meine Mutter ging fast jeden Tag zum Bahnhof und bot den Flüchtlingen kostenlose Unterkunft an. Das Kino, in das ich so gerne ging, wurde zu einem humanitären Hilfszentrum. Meine Freunde spendeten für Hilfsorganisationen, webten Tarnnetze, backten Kuchen für die Soldaten an der Front und bereiteten Molotowcocktails für den Fall des Angriffs auf die Stadt vor. Mein Bruder, der einen stabilen Job in der IT-Branche hatte, ging freiwillig an die Front.

Wie geht es dir, wenn du heute deine Familie zu Hause in Lwiw besuchst?

Seit dem 24. Februar 2022 habe ich meine Familie ein paar Mal besucht. In dem Moment, in dem ich diesen Text schreibe, am 20. März 2023, bin ich auch in Lwiw. Mehr denn je fühle ich mich mit diesem Ort verbunden und bin begeistert von der Widerstandsfähigkeit der Menschen, die hier leben. Die Schulen haben den Präsenzunterricht wieder aufgenommen und Bombenschutzräume eingerichtet; die Cafés halten Generatoren für den Fall eines Stromausfalls bereit (wegen der russischen Raketenangriffe auf die Infrastruktur), die Studenten organisieren kleine Freiwilligeninitiativen, um Tarnnetze zu weben und Kerzen direkt in ihren Wohnheimen herzustellen.

Die Sache hat aber auch eine andere Seite: Es ist unmöglich, sich an die täglichen Alarmsirenen zu gewöhnen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, an die Trauerzüge junger Soldaten, an die vielen neuen Gräber, für die der Platz auf dem Friedhof bereits knapp wird. Dieser Krieg hat uns allen etwas genommen und wird uns auch weiterhin etwas nehmen. Der eine hat Angehörige an der Front, der andere wartet darauf, dass die Stadt seiner Eltern von der Besatzung befreit wird, jemand hat einen Raketenangriff auf sein Haus erlebt, der seine Lieben das Leben gekostet und alle materiellen Erinnerungen an sie ausgelöscht hat. Jeder hat sein eigenes Ausmaß an Schmerz und Trauma.

Was bedeutet für dich die Unterstützung der Ukraine durch Deutschland bzw. konkret durch die Bamberger*innen in deiner Studienstadt? Was kann man tun, um die Ukraine heute zu unterstützen?

Von meinen Freunden in der Ukraine höre ich oft die Frage, was die Deutschen über den Krieg in der Ukraine denken. Ich antworte immer: "Die Deutschen unterstützen uns." Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie die Bambergerinnen und Bamberger zusammengekommen sind, um zu helfen. Sie nahmen ukrainische Flüchtlinge auf, reagierten auf jeden Spendenaufruf und brachten humanitäre Hilfe in das damals neu gegründete Lager an der Lagarde-Kaserne (ein großes DANKE an die Organisation von Bamberg hilft!); die Mailbox des Vereins war voll mit Nachrichten von Menschen, die helfen wollten. Diese Unterstützung gibt mir immer noch Kraft, und zwar nicht nur in moralischer Hinsicht. Bamberg:UA hätte ohne die großzügigen Spenden nicht in der Lage sein können, eine so große Menge an medizinischer Hilfe, Krankenwagen, Evakuierungsfahrzeugen und vielem mehr in die Ukraine zu schicken.

Natürlich beobachte ich, dass die Menschen im Laufe des Jahres weniger sensibel für das Thema Krieg in der Ukraine geworden sind. Aber der Krieg ist immer noch da, und die Menschen brauchen weiterhin jeden Tag Hilfe. Das Hauptaugenmerk unserer Hilfsorganisation liegt auf der Bereitstellung dringender medizinischer Hilfe für die Verwundeten in den Kriegsgebieten. So sammeln wir derzeit Mittel für den Kauf von 20 medizinischen Notfallrucksäcken und 20 mobilen Ultraschallgeräten, um die Sanitätsteams in der Ukraine auszustatten. Eine hochwertige Ausrüstung ist ziemlich teuer, und der Bedarf daran ist heute nicht geringer als zu Beginn der Invasion. Deshalb möchte ich jeden, der/die dies liest, dazu auffordern, es sich zur Gewohnheit zu machen, einmal im Monat zumindest einen kleinen Betrag an eine Ukraine-Hilfe-Organisation zu spenden. Ich persönlich würde natürlich Bamberg:UA empfehlen.

Wir danken dir, Yustyna, für das Interview, die Einblicke und für deine offenen Worte!

Der Verein Bamberg:UA arbeitet  eng zusammen mit der Initiative Bamberg hilft!, die im Februar 2022, ins Leben gerufen wurde, um alltägliche Hilfs- und Bedarfsgüter für Spendentransporte zu sammeln. Wenn beispielsweise Bamberg:UA einen Krankenwagen für die Ukraine organisiert, wird er vor Abfahrt mit Spendengütern gefüllt, die die vielen Freiwilligen von Bamberg hilft! in der Posthalle auf dem Lagarde-Gelände annehmen und sortieren. Übrigens: Wer hier gerne tatkräftig mitanpacken mag oder eine Sachspende vorbeibringen möchte, kann das ohne Voranmeldung jeweils zu den Öffnungszeiten am Dienstag (17:00-19:00 Uhr) und am Samstag (11:00-14:00 Uhr) tun.

Weitere Infos zum ehrenamtlichen Engagement für die Ukraine in Bamberg unter:

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Seite 158229, aktualisiert 13.06.2023