Willkommen im „No Bullshit Club“

Sozialpsychologe Thomas Schultze-Gerlach will kritisches Denken der Studierenden fördern. Im Interview stellt er sich vor.

  • Menschen
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  • 04.12.2024
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  • Hannah Fischer
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  • Lesedauer: 8 Minuten

Eigentlich wollte Prof. Dr. Thomas Schultze-Gerlach Unternehmensberater werden. Jetzt hat es ihn nach Bamberg verschlagen, wo er seit August 2024 die Professur für Sozialpsychologie, Technik und Gesellschaft innehat. Welcher Bamberger Psychologieprofessor seine Begeisterung für die Wissenschaft geweckt hat, was es mit dem „No Bullshit Club“ auf sich hat und warum er einen Beitrag dazu leisten will, dass die nächste Generation mindestens so klug ist wie die Generation jetzt, verrät er im Interview.

Welcher Weg hat Sie nach Bamberg geführt?

Thomas Schultze-Gerlach: Der Weg war eigentlich ziemlich kurz, denn ich war zuvor insgesamt 18 Jahre in Göttingen. Angefangen hat es mit einem BWL-Studium in Berlin, an das sich ein Psychologie-Studium in Halle und später Göttingen anschloss. Diese Doppelqualifikation war geplant, denn ich wollte eigentlich Unternehmensberater werden und habe bereits während des Studiums als solcher gearbeitet. Im Grundstudium habe ich aber festgestellt, dass mir Wissenschaft Spaß macht. In Göttingen habe ich dann promoviert, als Postdoc gearbeitet und mich habilitiert. Gemeinsam mit meiner Frau ging es zwischenzeitlich an die Queen’s University in Belfast und jetzt sind wir hier in Bamberg – meine Frau am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe und ich an der Universität.

Warum haben Sie sich in Bamberg beworben?

Ein Buch, das meine Begeisterung für die Wissenschaft geweckt hat, war „Die Logik des Misslingens“ von Professor Dietrich Dörner, ehemaliger Direktor des Instituts für Theoretische Psychologie hier in Bamberg. Dadurch habe ich mich intensiv mit systemischem Denken auseinandergesetzt und zu diesem Thema auch eine größere Studie veröffentlicht. Ich dachte mir, es wäre schön, an dem Ort zu arbeiten, an dem Dietrich Dörner gewirkt hat.

Wie war Ihr erster Eindruck von Bamberg?

An meiner vorherigen Station Belfast war die Situation so: Das Land ist wunderschön, die Menschen sind großartig und das Wetter ist katastrophal. Und dann kamen wir zum ersten Mal nach Bamberg: es war August, hatte 29 Grad und es hat sich angefühlt wie Urlaub. 

Sie arbeiten jetzt da, wo andere Urlaub machen. Welchen Forschungsschwerpunkten gehen Sie dabei nach?

In meiner Forschung beschäftige ich mich mit Urteilen und Entscheidungen im sozialen Kontext, also wie Menschen Entscheidungen treffen, wenn sie nicht alleine sind. Zudem beschäftige ich mich mit Urteilen und Entscheidungen im organisationalen Kontext, insbesondere mit dem Phänomen der Verlusteskalation. Es geht dabei um Projekte, die viel später als gewollt oder gar nicht fertiggestellt werden oder mit einer Kostenexplosion verbunden sind. Beispiele wären Stuttgart 21 oder der Berliner Flughafen. Die Frage ist: Warum halten Menschen daran fest, obwohl es zu einem gewissen Zeitpunkt vielleicht sinnvoller gewesen wäre, die Reißleine zu ziehen? Entgegen der verbreiteten Meinung, dass Menschen aus Stolz oder Angst vor Fehlern weiter investieren, arbeiten meine Kolleginnen und Kollegen und ich an einem alternativen Erklärungsansatz: Wenn jemand ein Projekt beginnt, hat diese Person meist eine grundlegende Überzeugung, dass das Projekt sinnvoll ist, während Außenstehende es neutraler bewerten können. Neue Informationen interpretieren wir oft im Licht dieser Überzeugungen – eine Bewertungsverzerrung, die dazu führt, dass Entscheidungsträger positive Informationen stärker gewichten und negative abschwächen. Wichtig finde ich, dass wir künftig in der Psychologie nicht nur untersuchen, warum Menschen an schlechten Projekten festhalten, sondern auch, ob wir gute Projekte zu früh aufgeben, wenn Schwierigkeiten auftreten. Leidet das Potenzial für Innovation, wenn vielversprechende Ideen vorschnell fallen gelassen werden? Ein weiterer Fokus meiner Forschung liegt auf der Frage, wie stark Menschen sich von Ratschlägen beeinflussen lassen beziehungsweise wie beratungsresistent sie sind.

Können Sie in dem Bereich von einem konkreten Forschungsprojekt berichten?

Einzelpersonen tendieren dazu, ungefragte Ratschläge weniger stark zu berücksichtigen, selbst wenn diese ihre Entscheidungen zumindest anteilig verbessern könnten. Vor einigen Jahren gab es ein Paper, das besagt, dass Gruppen sogar noch beratungsresistenter als Einzelpersonen sind. Ein Kollege und ich haben uns überlegt, dass das durchaus Sinn ergeben könnte, denn eine Zweiergruppe hat ja auch die doppelte „Brainpower“. Vielleicht sollten sie deshalb sogar weniger auf den Ratschlag hören als eine Einzelperson. Vielleicht ist das gar keine größere Beratungsresistenz, sondern vielleicht haben Gruppen einfach erkannt, dass sie gemeinsam das Problem besser beleuchten können als eine Einzelperson. Aus diesen Überlegungen ist ein mathematisches Modell entstanden, mit dem wir für jede Gruppengröße vorhersagen können, wie sehr die Gruppen einen Ratschlag im Schnitt berücksichtigen werden. Besonders spannend an dieser Herangehensweise sind die Punktvorhersagen, die zwar risikoreich sind, aber dafür sehr gut überprüft werden können. Wenn das Modell eine Falsifizierung übersteht, stärkt das seine Aussagekraft und gibt wertvolle Einblicke in gruppenpsychologische Entscheidungsprozesse.

Sie beforschen Entscheidungsprozesse in sozialen Gruppen. Inwiefern spielt die Zusammenarbeit mit anderen in Ihrer eigenen Arbeit eine Rolle?

Interdisziplinarität spielt in meiner Forschung eine große Rolle. Ich habe etwa in Göttingen am Leibniz-WissenschaftsCampus „Primatenkognition“ gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Biologie, Neurowissenschaften und Linguistik daran geforscht, was den Menschen unter den Primaten einzigartig macht. Können wir unterschiedliche Dinge oder können wir dieselben Dinge so viel besser? In Belfast ging es in einem Projekt darum, wie Menschen mit KI umgehen. Das haben wir aus vielen Perspektiven beleuchtet und es waren neben Forschenden aus der Psychologie auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Physik, den Computerwissenschaften oder Juristinnen und Juristen dabei. Hierzu würde ich auch gerne in Bamberg weiterforschen.

Was ist Ihnen in der Lehre wichtig?

Mir ist wichtig, dass Studierende lernen, wissenschaftliche Inhalte kritisch zu hinterfragen und selbstständig zu bewerten. Heute geht es nicht mehr darum, ein Lehrbuch auswendig zu kennen, denn unser Wissensstand verändert sich immer schneller. In der Psychologie kommt hinzu, dass wir vor rund zehn Jahren eine Replikationskrise erlebt haben, die gezeigt hat, dass vieles, was wir glaubten über menschliches Verhalten zu wissen, falsch ist. Ein Grund dafür ist, wie Anreizsysteme im Wissenschaftssystem gestaltet sind: Häufig wurden Daten an die gewünschten Ergebnisse angepasst, während widersprechende Befunde unter den Tisch fielen.

Wer bei mir in einem Seminar war, ist im „No Bullshit Club“: Die Studierenden lassen sich nicht mehr so leicht durch ein Paper täuschen, das etwas verspricht, was die Daten nicht hergeben. Ich muss meinen Beitrag dazu leisten, dass die nächste Generation mindestens so klug ist wie die Generation jetzt. Sonst gibt es keinen Fortschritt.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Seite 168696, aktualisiert 04.12.2024