Im Interview: Kathrin Gies, neue Professorin für Alttestamentliche Wissenschaften

Mit einem Schritt in die Vergangenheit blickt sie analytisch auf Phänomene der Gegenwart

Portrait Kathrin Gies
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  • 07.12.2022
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  • Hannah Fischer
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  • Lesedauer: 6 Minuten

Die Beschäftigung mit alttestamentlichen Texten steht im Zentrum der Arbeit von Prof. Dr. Kathrin Gies. Sie ist die Nachfolgerin von Prof. Dr. Klaus Bieberstein, der bis zum Sommer 2021 den Lehrstuhl für Alttestamentliche Wissenschaften innehatte. Im Interview erzählt die 43-Jährige unter anderem davon, welcher Weg sie in die Welterbestadt geführt hat, zu welchen Schwerpunkten sie forscht und was sie an der Lektüre und Erforschung des Alten Testaments fasziniert.

Liebe Frau Gies, wie sind Sie als Hessin zu uns ins Frankenland gekommen?

Kathrin Gies: Nach meiner Schulzeit in Fulda habe ich bereits einige Zeit in Franken verbracht, denn für das Studium Lehramt an Gymnasien für die Fächer Deutsch und Katholische Religionslehre bin ich nach Würzburg gezogen. Dort habe ich schnell gemerkt, dass die Theologie und vor allem die Bibel meine Begeisterung geweckt haben, weshalb ich zusätzlich noch Diplomtheologie studiert und im Fach Altes Testament promoviert habe. Für mich ist es die Faszination am Fremden und Anderen, die mich antreibt. Trotz der Fremdheit kann man sich immer wieder selbst in den antiken Texten wiederfinden.

Haben Sie das Lehramtsstudium noch abgeschlossen?

Nach der Promotion habe ich mich dazu entschlossen, die Lehramtsausbildung abzuschließen und bin ins Referendariat gestartet. Die Zeit an der Schule habe ich sehr genossen, und die Erfahrungen kommen mir auch heute noch zu Gute in der Lehrer*innenbildung, die ja hier in Bamberg einen besonderen Stellenwert hat. Die Perspektive als Lehrerin spiegelt sich auch in der Gestaltung meiner Lehrveranstaltungen wider. Nach dem Zweiten Staatsexamen war ich Fachvertreterin für das Alte Testament an der Universität Duisburg-Essen. Das war eine unbefristete Beamtenstelle, die generell für akademischen Nachwuchs sehr interessant sind, weil man sich nicht von Vertrag zu Vertrag hangeln muss, sondern eine Perspektive hat. Auch wenn eine Weiterqualifikation auf der Stelle wegen des hohen Lehrdeputats nicht vorgesehen war, habe ich parallel an meiner Habilitationschrift gearbeitet, die ich 2019 an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster eingereicht habe und dort die venia legendi für das Fach Altes Testament erhielt. Ich habe mich sehr gefreut, dass es unmittelbar darauf mit der Bewerbung in Bamberg geklappt hat.

Sie haben gerade schon die Lehre angesprochen. Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?

Natürlich braucht es eine Person, die die Studierenden in das Alte Testament einführt, die Lehrveranstaltungen und Inhalte ordnet und strukturiert. Am Wichtigsten ist mir aber, dass sich die Studierenden selbst mit den Texten auseinandersetzen. Als Professorin hat man einen Wissensvorsprung, gerade was methodische Fähigkeiten angeht. Aber aus meiner Sicht gibt es nicht die eine richtige Lektüre von Texten. Die Lektüre ist ein ständiger Prozess, in dem Text und Leser*in interagieren.

Die Lektüre des Alten Testaments steht im Zentrum Ihrer Arbeit. Wo liegen dabei Ihre Forschungsschwerpunkte?

Insgesamt möchte ich vier Teilbereiche nennen:

Bereits seit meiner Promotion beschäftige ich mich mit Anthropologie. In der Dissertation ging es um die rituelle Bewältigung von Erfahrungen im Kontext von Schwangerschaft und Geburt und wie in diesem Zusammenhang Geschlecht konstruiert wird.

In meiner Habilitation habe ich mich damit beschäftigt, wie durch die Lektüre alttestamentlicher Texte eine ethische Identität entstehen kann. Nach aufklärerischer Vorstellung ist es schwierig von göttlicher Offenbarung im Sinne von Handlungsanweisungen zu sprechen, weil wir davon ausgehen, dass wir in unseren Entscheidungen autonom sind. Aber gleichzeitig macht die Lektüre eines Textes ja etwas mit uns. In der Habilitation sehe ich die Lektüre als Schaffung von eigenen Welten, in denen Leser*innen Handlungsoptionen ausprobieren können. Bestimmte ethische Vorstellungen können sie in ihre Realität übernehmen, sodass ihr ethisches Selbstverständnis letztendlich geformt wird.

Ich beschäftige mich auch mit der Bibeldidaktik, also der Frage, wie Lehrer*innen mit ihren Schüler*innen an biblischen Texten arbeiten können.

Aus persönlichem Interesse, aber auch weil in der Vergangenheit die Stelle in Essen einen Schwerpunkt in dem Bereich hatte, befasse ich mich darüber hinaus mit Judentumsstudien. Über das Zentrum für Interreligiöse Studien bin ich auch hier in Bamberg mit den Kolleg*innen aus der Judaistik verbunden und freue mich in Zukunft auf fruchtbare Kooperationen.

Schwangerschaft und Geburt sind ja Themen, die sehr viele Menschen in ihrem Leben betreffen – können Sie noch etwas mehr zu Ihrer Promotion erzählen?

Die Grundthese ist, dass durch Schwangerschaft und Geburt wie auch bei anderen Übergängen, die das Leben bietet, eine Verunsicherung entsteht und neue Rollen übernommen werden müssen. In meiner Promotionsschrift habe ich verschiedene alttestamentliche Texte untersucht, die Vorgänge im Zusammenhang von Schwangerschaft und Geburt zur Sprache bringen. Ich frage dabei nach rituellen Vollzügen und deren Rollenträgern, wie sich die Geschlechterverhältnisse gestalten und wie über Zuschreibungen Geschlechterdifferenz konstruiert wird. Im Alten Testament sind keine expliziten Ritualtexte zu finden, sondern vielmehr Hinweise auf etwa apotropäische Rituale, also Handlungen, die Dämonen austreiben und Unheil abwenden sollen. Aus dem Vorderen Orient sind hingegen viele Ritualtexte überliefert, weshalb ich auch altägyptische und altorientalische Quellen einbezogen habe. Das Interessante ist, dass im Kontext von Schwangerschaft und Geburt traditionelle Rollenzuweisungen aufgebrochen werden. Eine Geburt wird der weiblichen Sphäre zugeordnet und stellt die gesellschaftliche Vorstellung des männlichen Vorrangs infrage. Damit werden Überschreitungen klassischer Geschlechterrollen möglich.

Inwiefern spielen für Sie die Inhalte Ihrer Promotion heute noch eine Rolle?

Für mich sind heute nicht die einzelnen Ergebnisse der Promotion wichtig, sondern die grundsätzliche Fragestellung dahinter: Sie hat mein Interesse für Genderfragen geweckt. In diesem Wintersemester biete ich zum Beispiel ein Seminar zum Thema „Geschlecht, Liebe und Sexualität im Alten Testament“ an, in dem es um genau diese Genderperspektive auf die Schriften des Alten Testaments geht. Und auch prinzipiell beschäftigt mich die Anthropologie weiterhin: Gerade arbeite ich an einem Lehrbuch für Studierende. Es zeigt alttestamentliche Vorstellungen von der Geschöpflichkeit des Menschen, seiner Fehlbarkeit und seiner Produktivität, von Geschlechtlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen auf und legt das biblische Grundverständnis des Menschen als Sein vor Gott dar.

Inwiefern haben Texte aus dem Alten Testament noch Einfluss auf unsere heutige Realität?

Wenn wir uns mit antiken Texten befassen, dann tritt ein Verfremdungseffekt ein, weil wir über die zeitliche Distanz Inhalte verobjektivieren können. Dadurch werden uns bestimmte Muster und Konstruktionen offensichtlich, die wir in der eigenen Gegenwart erst einmal nicht durchschauen können, weil wir in sie eingebunden sind. Über den Schritt in die Vergangenheit wird uns ein analytischer Blick auf Phänomene der Gegenwart erlaubt, der uns handlungsfähig macht.

Vielen Dank für das Interview!

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Seite 155292, aktualisiert 07.12.2022