Der Mensch, die Technik und das Anthropozän

33. Bamberger Hegelwoche widmet sich dem neuen Erdzeitalter, das geprägt ist durch den Menschen und den Menschen zugleich prägt.

Hegelwoche in der AULA
  • Campus
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  • 26.06.2023
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  • Hannah Fischer, Christian Illies
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  • Lesedauer: 8 Minuten

Führende Forschungspersönlichkeiten der Geologie, Erdsystemwissenschaften, Sozial- und Kulturtheorie diskutieren seit einigen Jahren, ob wir in einem neuen Erdzeitalter leben, das maßgeblich durch den Einfluss des Menschen geprägt ist und nach 12.000 Jahren das Holozän abgelöst haben soll: das Anthropozän. In nur wenigen Jahrzehnten ist es dem Menschen gelungen, alle entscheidenden Größen der Erdsysteme messbar zu verändern. Dazu zählen etwa der Klimawandel, die Versauerung der Meere oder das rapide Artensterben.

Diesem neuen Erdzeitalter – und damit der Zeit, in der wir leben, widmete sich zwischen dem 20. und 23. Juni aus einer philosophischen Perspektive die Bamberger Hegelwoche. Sie fragte aber nicht geologisch, nicht nach Klimawandel, Artenverlust, Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt, auch nicht nur nach der technischen Umgestaltung der Welt. Sie fragte nach dem, was all diese Veränderungen für uns Menschen und unser Selbstverständnis bedeuten. Die Hegelwoche verband sich so mit dem Geist Hegels, dem Namensgeber des jährlich wiederkehrenden Forums der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen. „Denn wir spekulieren“, sagte Prof. Dr. Christian Illies bei seiner Begrüßungsrede –„Wir spekulieren im Hegelschen Sinne. Wir wollen das, was widersprüchlich, schwer fassbar erscheint, ein wenig besser fassen und zusammenzubringen. Wir wollen dabei den Menschen ins Zentrum rücken und fragen, wie der Mensch heute zu verstehen ist und wie er sich selbst versteht.“

Das Mensch-Maschine-Tandem kennzeichnet das Anthropozän

Prof. Dr. Dr. h.c. Walther Ch. Zimmerli, der 1990 die Hegelwoche begründete und damit „einen für alle zugänglichen Ort geschaffen hat, um über Philosophie nachzudenken“, wie Thomas Zeller von der Mediengruppe Oberfranken in seiner Begrüßung sagte, eröffnete die Hegelwoche. Sein Vortrag stand unter dem Titel „Zeitzeichen Anthropozän – Machen wir die Gegenwart?“. Bereits bei der ersten Hegelwoche 1990 hat der Schweizer Philosoph Zimmerli von der datenverarbeitenden Technik als kulturverändernde Kraft gesprochen – heute zeigt sich: Sie prägt das Anthropozän. „Wir bewegen uns in ein Zeitalter, in dem wir mit digitaler Technologie verwachsen sind“, erläuterte Zimmerli in seinem Vortrag. Ein postanaloger Mensch quasi, der zwar in einer durch sich selbst beschleunigten Dynamik der Zeit lebt und um ein neues Selbstverständnis in ihr ringt, der aber grundsätzlich das gleiche Wesen bleibt. Die Rolle des Menschen im neuen Erdzeitalter sieht er als einen Digital-Analog-Converter: „Keiner von uns sieht digitalisierte Bilder oder hört digitalisierte Musik. Wir reanalogisieren sie, um sie zu verstehen. Wir transformieren Digitales in Analoges, denn wir sehen ja Bilder und keine Nullen und Einsen“, erklärte er. Wir befinden uns laut Zimmerli also in einem „Mensch-Maschine-Tandem“. In der Podiumsdiskussion am zweiten Abend der Hegelwoche sah das auch Universitätspräsident Prof. Dr. Kai Fischbach ähnlich: „Die digitale Revolution durchdringt und verändert unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt. Die Funktionsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft ist mittlerweile angewiesen auf elektronische Datenverarbeitung.“ Wir nähmen die Welt immer mehr durch Technik wahr, indem wir darauf angewiesen seien, dass Algorithmen etwa von Google oder Facebook sie uns zeigten.  

Die geistige Umweltkrise

An eben jenem zweiten Abend der Hegelwoche fragte Prof. Dr. Uwe Voigt, Philosophieprofessor aus Augsburg, danach, was mit uns in der Gegenwart geschieht, die wir selbst verursacht haben. Das Anthropozän sieht Voigt als „technische Überformung des Erdsystems“, die inzwischen eine Eigendynamik entwickelt habe, die von uns Menschen nicht so geplant gewesen sei, unter deren Nebenfolgen wir aber litten. „Wir stehen gar nicht so herrlich da, sondern eher wie geknechtet von den immensen Sachzwängen“, meinte Voigt. Er sieht das Anthropozän also nicht nur als eine biologische, sondern auch als eine geistige Umweltkrise. Das neue Erdzeitalter beeinträchtige unsere Fähigkeit, den mit ihm einhergehenden Herausforderungen angemessen zu begegnen. Das Menschenbild verenge sich auf jenes des homo oeconomicus, der sich im Kampf gegen alle um die knapp werdenden Ressourcen befinde statt zu kooperieren. Daher halte uns ein Narzissmus gefangen. Voigt meint damit aber nicht Narzissmus im Sinne einer Persönlichkeitsstörung, sondern eine geistige Fehlhaltung. Bei diesem „logischen Narzissmus“, wie er das Phänomen nennt, identifizieren sich Wesen mit ihrem Standpunkt. Das scheine sich derzeit durch alle Schichten unserer menschlichen Existenz zu ziehen. Der logische Narzisst weigere sich, seinen Standpunkt aufzugeben, weil er sich dann selbst aufgäbe. Doch wie kommen wir da wieder raus? Voigt meint, wir müssten nicht all unsere Standpunkte aufgeben, für die wir ja auch gute Gründe hätten. „Es bedeutet, dass wir uns und andere nicht mit unseren Standpunkten identifizieren.“ Diese Aufgabe dürfe nicht auf die Schultern jedes einzelnen abgewälzt werden. Sie sei eine Aufgabe für uns alle gemeinsam – „eine Aufgabe, die uns über unsere verschiedenen Standpunkte hinweg verbinden kann.“

Immersive Kunst verbindet Mensch und Maschine

Am dritten Abend der Hegelwoche machten Paul Morat und Aaron Schwerdtfeger von der Künstlergruppe Aiken Cura aus Berlin die Interaktion zwischen Mensch und Maschine erlebbar und griffen zugleich die Themen der vorherigen beiden Abende auf. Sie stellten „Nachtalb“ vor. Nachtalb ist ein immersives Interface, das die Interaktion von Gehirn zu Gehirn durch multisensorisches Feedback ermöglicht. Die Hirnaktivität eines Menschen wird gemessen und visuell mit Hilfe einer VR-Brille, taktil mit einem vibrierenden Anzug und auditiv mit 3D-Sound umgesetzt und wieder an den Menschen zurückgegeben. Dadurch soll eine Rückkopplungsschleife geschaffen werden, die die Gehirnaktivität vom Daten-Input in einen sensorischen Output verwandelt, der wiederum den Daten-Input der Gehirnaktivität direkt beeinflusst. Das Gehirn interagiert also mit sich selbst – es entsteht ein Kreislauf, auf den Nutzer*innen selbst keinen Einfluss haben.

Doch inwiefern steht diese Kunst sinnbildlich für das Menschenbild im Anthropozän? Psychologin und Philosophin Dr. Marion Friedrich ordnete nach einem Selbsttest die Installation ein: Der Mensch ist aus ihrer Sicht zunächst einmal ein moralisches Wesen. Die Moral entstehe als „Verhandlung zwischen Mitgefühl und Verstand“, als Ergebnis des Miteinander mit anderen Lebewesen und der Natur. Die Möglichkeit der Verwirklichung anthropologischer Konstanten ermöglichten sozialen und moralischen Fortschritt. Doch einige der grundlegenden menschlichen Fähigkeiten ließen wir brachliegen. Trotz des technischen und technologischen Fortschritts sei es uns bisher nicht gelungen, auch moralisch Fortschritte zu erzielen – noch immer gebe es Kriege, wir zerstörten die Natur, … „Im Nachtalb als Sinnbild für das Anthropozän mäandern wir in einem eigens kreierten solipsistisch-narzisstischen Universum“, meint Friedrich. Uns sei so nur die eigene Existenz zugänglich. „Wir limitieren unsere Wahrnehmung mehr und mehr: Wir verschwören uns mit uns selbst, tauchen in Internet-Bubbles ein, projizieren unsere eigene geistige Welt nach außen und spiegeln uns darin.“ Unsere Vorstellung verwechselten wir mit der Wirklichkeit. „Im Nachtalb rauben wir uns selbst das letzte verbliebene Du“, so Friedrich: Nachdem das „ewige Du“, das, so Martin Buber, nie zum „Es“ werden kann, hätten die Menschen Gott schlichtweg aus ihrem Leben getilgt; die Natur sei zur bloßen Umweltressource degradiert worden; Mittiere wären ebenso verdinglicht worden – nun entledige sich der Mensch in seinem endlosen Monolog seines Mitmenschen. Genau wie bei Nachtalb flatterten wir egozentriert, empfindlich, empathiearm und entwertend fenster- und türenlos durch unsere selbsterzeugte Wahrnehmungswelt. Ob wir genau so weiter machen wollten sei unsere Entscheidung: Denn, zitiert Friedrich Viktor Frankl, der Mensch sei stets ein fakultatives Wesen.

Hegelforum mit Ernst Ulrich von Weizsäcker

Was bei den Abendveranstaltungen der Hegelwoche nicht im Zentrum des Spekulierens, des Nachdenkens stand, war der ökologische Aspekt des Anthropozäns. Das Hegelforum – die reflektierende Vertiefung der Hegelwoche – widmete sich ebendiesem Thema am folgenden Tag und brachte die Hegelwoche damit zu einem runden Abschluss. Der Biologe und Umweltpolitiker Ernst Ulrich von Weizsäcker diskutierte, moderiert von Christian Illies, mit dem Philosophieprofessor Walther Ch. Zimmerli und dem Würzburger Geographen Joachim Rathmann über die Verbindung von Ökologie und Ökonomie: Wie muss die Wirtschaft, wie aber auch das Verhalten der Menschen aussehen, um zukunftsfest ins Anthropozän zu gehen? Während von Weizsäcker für eine erweiterte Aufklärung und veränderte Denkweise in der Politik plädierte, empfahl Joachim Rathmann die Förderung der Sensibilität des Einzelnen durch intensiven Naturumgang.  Walther Zimmerli schlug hier Brücken und fragte unter anderem nach der Rolle, welche hier die Religionen spielen könnten.

An das Hegelforum schloss sich ein von Dr. Stephan Wolf von der Hochschule Kempten mit der Fränkischen Gesellschaft für Philosophie organisierter Workshop zur Frage „Was wissen wir?“ an. Der Workshop war zugleich eine Ehrung Walther Ch. Zimmerli. Der hatte die Fränkische Gesellschaft vor 33 Jahren ins Leben gerufen, um einen geistigen Brückenschlag von der Universität zur Öffentlichkeit über die Hegelwoche hinaus zu leisten. So waren es neben Studierenden und Kolleginnen und Kollegen vor allem Weggefährten und Schüler Zimmerlis, die am Freitagnachmittag zu dem großen Thema sprachen. Im Kapitelsaal der Gemeinde St. Stephan – Hegels Kirche zu seiner Zeit in Bamberg – sprach unter anderem der Philosoph Prof. Lambert Wiesing über die Frage, ob sich mit dem Bewusstsein leben lässt, dass all unser Wissen unsicher ist, und wie eine radikal skeptische Grundhaltung aussieht. Stephan Günzel, Professor für Medientheorie aus Berlin, verfolgte den Pfad der menschlichen Vorstellungen vom Raum und analysierte, welche Raumvorstellung das Anthropozän begleiten oder ihm auch zugrunde liegen könnte. Prof. Dr. Mike Sandbothe aus Jena erprobte mit den Teilnehmenden praktische Wege der Aufmerksamkeitsfokussierung. Walther Ch. Zimmerli brachte die unterschiedlichen Annäherungen in seinen Ausführungen schließlich zusammen, um eine versöhnliche Antwort auf die Frage nach dem, was wir wissen, zu geben.

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Seite 158473, aktualisiert 26.06.2023