Krieg und Krisen verstehen und bewältigen

Denkanstöße von Bamberger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern

  • Campus
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  • 22.09.2023
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  • Patricia Achter
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  • Lesedauer: 10 Minuten

In Kriegs- und Krisenzeiten können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zusammenhänge erklären und Hilfestellungen geben. Einige von ihnen untersuchen an der Universität Bamberg, welche Folgen Kriege haben und wie man psychisch Krisen verarbeiten kann. Für uni.kat beantworten sie Fragen dazu – verständlich und lebensnah.

Wer einen Blick auf die Stromrechnung geworfen, in den Wintermonaten im Büro gefroren oder die Tagesschau eingeschaltet hat, weiß: Krieg in Europa ist wieder real. Er wirkt sich auf den Alltag in Deutschland aus. Zu dieser neuen Realität gehören unter anderem höhere Verteidigungsausgaben, Demonstrationen aus Solidarität mit der Ukraine oder auch die Unterstützung ukrainischer Geflüchteter. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf Berichte in Zeitungen, Sozialpolitik in Kriegsgebieten und Einstellungen von Ukrainer*innen? Wie gehen wir psychisch mit dieser Krise und damit verbundenen Ängsten um?

Fragen wie diese beantworten Bamberger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Folgenden. Sie betrachten Kriege und ihre Folgen aus informatischer, politikwissenschaftlicher, psychologischer und theologischer Perspektive. Vertreterinnen und Vertreter aller vier Fakultäten der Universität Bamberg zeigen vielfältige Blickweisen auf: Sie ordnen die Lage in der Ukraine ein, präsentieren Forschungsfragen und -ergebnisse oder bieten Lösungsansätze für jeden Einzelnen, um solche Krisenzeiten zu bewältigen. Dabei richten sie ihren Fokus nicht auf die Bedrohung, sondern darauf, Zusammenhänge zu verstehen und hilfreiche Denkanstöße zu geben.

Forschungen in diesem Themenbereich ergänzen und untermauern die Grundhaltung der Universität Bamberg zur Invasion der Ukraine durch Truppen der Russischen Föderation. Die Universitätsleitung verurteilt den Angriffskrieg. In einer Stellungnahme erklärte sie: „Gewalt, die Missachtung nationalen und internationalen Rechts, insbesondere die Missachtung der Menschenrechte, der bürgerlichen Freiheiten und der Wissenschaftsfreiheit, stellen für das Wissenschaftssystem eine schwere Bedrohung dar. Wissenschaftlicher Fortschritt braucht Frieden, Rechtssicherheit und die Freiheit zum ungehinderten Austausch.“ Ein wesentliches Anliegen der Universität ist es daher, Forschende und Studierende aus der Ukraine zu unterstützen, beispielsweise mit Deutsch-Intensivkursen oder auch psychologischer Beratung.

Mehr dazu unter: www.uni-bamberg.de/hilfe-fuer-die-ukraine

Was hält in Krisenzeiten gesund?

"Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Professur für Pathopsychologie forschen zu Konzepten des Gesundbleibens. Dazu gehört die sogenannte Salutogenese, die Soziologe Aaron Antonovsky auf der Basis seiner Untersuchungen von Holocaustüberlebenden entwickelt hat. Sein „Wunder des Gesundbleibens“ führt er auf das Kohärenzgefühl zurück, nämlich das durchdringende und andauernde Vertrauen auf die individuelle Bedeutsamkeit, die Handhabbarkeit von Herausforderungen – auf Fränkisch: „bassdscho“ – und die Verstehbarkeit der Welt. Die geringe Transparenz politischen Handelns, die der britische Historiker Timothy Garton Ash „Scholzing“ nennt, wäre im Sinne der Salutogenese nicht gesundheitsförderlich.

Die Psychologin Emmy Werner machte das Konzept der Resilienz bekannt, als sie eine Kohorte von psychosozial belasteten Kindern 40 Jahre längsschnittlich untersuchte und Gründe für deren Gesundbleiben ermittelte. Dazu gehörten eine ausgeglichene Persönlichkeit, offenes Kontaktverhalten, zuverlässige und wertschätzende Bezugspersonen sowie eigene Erfolge. Das Konzept wurde später inhaltlich erweitert und wird inzwischen auch auf Erwachsene und sogar Institutionen angewendet. Ein weiteres Prinzip beim Umgang mit Krisen ist die Hoffnung, versinnbildlicht durch die Farbe Grün, wie beim Ergrünen der Natur – es heißt ja auch „die Hoffnung keimt“ – oder funktional bei Ampeln, Exit-Schildern und OP-Kleidung. Damit verwandt ist die von Psychologe Martin Seligman populär gemachte Positive Psychologie, in der positive Emotionen und Beziehungen, Engagement, Sinnhaftigkeit und eigene Errungenschaften Maße für Wohlbefinden sind. Er grenzt sie von der simplen Glücksforschung ab, die er etwas abfällig „Happiology“ nennt.

Auch die Krise als Chance zu sehen, ist als Postkartenspruch abgenutzt, aber therapeutisch trotzdem relevant. Ein sehr wichtiger Gesundheitsfaktor ist die soziale Unterstützung für oder durch Freunde und Verwandte – was bei Männern oft nur schwach ausgeprägt ist. Schließlich fördert der Lebensstil das psychische Wohlbefinden, zum Beispiel eine klare Tagesstruktur, genügend und regelmäßiger Schlaf, Tageslicht, gesunde Ernährung, also im Grunde alles, wovon Eltern meinen, dass es im studentischen Alltag nicht vorkommt."

Wie können die Auswirkungen des Krieges aktuell erforscht werden?

"Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat international eine große Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Viele Geflüchtete aus der Ukraine wurden direkt nach Beginn des russischen Angriffskriegs Ende Februar 2022 in vielen europäischen Ländern mit überwältigender Solidarität empfangen, auch in Deutschland. Mittlerweile gibt es viele Studien, die sich speziell mit der Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten oder aber mit den Einstellungen und Überzeugungen der Geflüchteten selbst befassen.

Ein Projekt des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Soziologie, befasst sich hingegen mit den Einstellungen der Menschen, die in der Ukraine geblieben sind. Es geht um die Frage, ob es möglich ist, mittels Werbung auf sozialen Medien wie Facebook und Instagram genügend Menschen in der Ukraine zu erreichen, um eine Infrastruktur zu wiederholten Befragungen aufzubauen. Hierfür hat die Lehrstuhlinhaberin im Juni 2022 gemeinsam mit Kolleg*innen des GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln, dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin, dem Qatar Computing Research Institute (QCRI) sowie den Universitäten Mannheim und Oxford erfolgreich eine erste Befragung durchgeführt, um Kontaktdaten von fast 20.000 Personen aus den entsprechenden Regionen zu sammeln. Diese wurden im Dezember 2022 für eine weitere Befragung genutzt. Auch wenn diese Gruppe an Personen nicht zufallsbasiert zur Umfrage eingeladen sind, kann man mit den Daten sowohl Untersuchungen über individuelle Veränderungen zwischen den beiden Zeitpunkten durchführen als auch mit experimentellen Studien kausale Zusammenhänge testen. Diese beiden Sachverhalte untersucht das Team in vielfältigen Forschungsarbeiten.

In einer Arbeit wird beispielsweise mit surveyexperimentellen Methoden betrachtet, wie Personen aus der Ukraine selbst ukrainische Geflüchtete wahrnehmen. Wird dies, wie von Präsident Wolodymyr Selenskyj oft erwähnt, positiv empfunden, da man wahrnimmt, dass diese Personen die Ukraine nicht im Stich lassen, sondern sich in Sicherheit bringen und weiterhin ein wichtiger Teil der Ukraine sind? Oder kann man in der Bevölkerung erste Anzeichen beobachten, dass sich hier möglicherweise eine neue Konfliktlinie abzeichnet zwischen denen, die geblieben sind, und denen, die geflüchtet sind?"

Braucht es in Kriesenzeiten Theologie?

"Gegenwart ist immer Krisenzeit. Ob man den Fokus auf Umweltverschmutzung oder Naturkatastrophen richtet, auf Corona-Pandemie oder Missbrauchsskandal oder auf den Ukraine-Krieg – das Leid, der Tod der Betroffenen fordert den christlichen Glauben und die Kirche als seine Zeugin heraus. Denn die Heilsbedeutung des Evangeliums vom Mensch-gewordenen Gott kann nur in den profanen Problemlagen entdeckt werden. In ihnen aber erscheint Jesus Christus als der Gekreuzigte. Diese Verknüpfung ist für den Glauben charakteristisch. Es braucht also eine Theologie, die ihr Ohr am Puls der Zeit hat, vor allem am flackernden Puls der Krisenzeiten. Deshalb verpflichtet das II. Vatikanische Konzil die Kirche auf die theologische Erforschung der „Zeichen der Zeit“. Sie tut das nicht obwohl, sondern weil Krisen die Glaubwürdigkeit des Glaubens je neu auf die Probe stellen.

Wenn Fundamentaltheologie und Dogmatik dem Kreuz Jesu an den aktuellen Orten von Unrecht und Gewalt normative Bedeutung verleihen, reflektieren sie diesen Gegenwartsbezug als Wahrheitsprüfung des Glaubens. Das heißt, sie klagen die Menschlichkeit des gekreuzigten Gottes dort ein, wo Menschen heute gekreuzigt, ihres Lebens und ihrer Würde beraubt werden. Dabei zeichnen sie die Notlagen mit der Markierung der Nähe Gottes, das heißt als Offenbarung aus, damit die Hilfeschreie der Opfer nicht zum Verstummen gebracht werden können. Um gegen Menschenrechtsverletzungen Widerstand zu leisten, rückt die Theologie die Botschaft von Gottes Menschwerdung ins Zentrum, die stets gegen unmenschliche Gewalt mobilisiert. So verschafft sie der Lehre der Kirche Relevanz und ermöglicht zugleich deren machtkritische Überprüfung.

Theologie ist diese Aufgabe in einem doppelten Sinn: Zum einen praktisch, weil sie alle Menschen in die Nachfolge auf den nur gemeinsam zu findenden Weg der Menschwerdung des Gottessohnes ruft. Theoretisch zum anderen, weil die Orientierung an seiner Menschlichkeit auch jenseits des Glaubens einsichtig macht, was Gotteserkenntnis bedeutet: die geschichtliche Arbeit an der Humanisierung von Mensch und Welt."

Kann man Fake News und Propaganda in Medien mit künstlicher Intelligenz aufdecken?

"Diese Frage untersucht die ukrainische Computerlinguistin und KI-Forscherin Veronika Solopova. Sie ist Doktorandin an der Freien Universität Berlin bei Prof. Dr. Christoph Benzmüller, der 2022 an die Universität Bamberg wechselte. Insbesondere vom russischen Staat produzierte Fake News, die sich an ein internationales und lokales Publikum richten, spielen seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine eine wichtige Rolle. Die gezielte Verbreitung von alternativen Fakten in internationalen Medien soll die Zustimmung zum Krieg in Russland erhöhen und Vorwände liefern, die Ukraine weniger zu unterstützen. Interne Propaganda gibt es aber auch auf ukrainischer Seite.

Europa und die Welt waren auf eine Kampagne dieses Ausmaßes nicht vorbereitet – an jedem Tag des Krieges werden große Mengen potenziell falscher Informationen produziert und verbreitet. Die Möglichkeiten der menschlichen Qualitätskontrolle sind durch die Informationsflut begrenzt und eine journalistische Überprüfung aller verbreiteten Fakten ist kaum mehr möglich. Das Team um Solopova will mit seiner Forschungsarbeit herausfinden, ob moderne KI-Technologie mit ihrer Fähigkeit zur schnellen und skalierbaren Analyse eine zuverlässige und transparente Propagandavorhersage liefern kann. Dazu hat es Methoden entwickelt, um Kreml-freundliche Propaganda in mehreren Sprachen automatisch zu identifizieren, basierend auf Deep Learning und linguistischem Expertenwissen.

Das Team hat herausgefunden, dass eine große Anzahl logischer Konnektoren, Zugeständnisse in Sätzen, die beispielsweise ein „obwohl“ enthalten, und Verweise auf die Vergangenheit am besten geeignet sind, Kreml-freundliche Nachrichten zu identifizieren. Man kann die Agenda des Kremls auch anhand von Schlüsselwörtern wie „spezielle Militäroperation“ anstelle von „Krieg“, der Erwähnung von „Bandera“ und „Russophobie“ und Verweisen auf antisemitische Verschwörungstheorien, insbesondere in Bezug auf George Soros, erkennen. Darüber hinaus wird oft die Einstellung der Militärhilfe für die Ukraine gefordert. Die Unterscheidung zwischen Propaganda und neutralen Nachrichten ist in der aktuellen Situation jedoch nicht vollständig möglich, auch weil die Nachrichten beider Seiten betroffen sind. Die von Solopova trainierten KI-Modelle könnten jedoch Teil einer Browsererweiterung werden, die potenziell schädliche Inhalte markiert, um Mediennutzer*innen für Fake News zu sensibilisieren."

Warum beeinflussen Kriege Sozialpolitik?

"Kriege und bewaffnete Konflikte verursachen unermessliches menschliches Leid und hinterlassen zahlreiche Kriegsopfer, die auf sozialen Schutz angewiesen sind. Die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten auf die Entwicklung von Sozialpolitik wurden allerdings in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung bislang nur selten untersucht. Ein aktuelles Forschungsprojekt versucht, diese Lücke zu schließen.

Kriege wirken sich auf Sozialpolitik häufig über zwei Kanäle aus: Erstens schaffen die Grausamkeiten des Krieges soziale Bedürfnisse in einem Ausmaß, das zwangsläufig staatliches Handeln erfordert und damit häufig die Einführung von Sozialschutzprogrammen in der Nachkriegszeit zur Folge hat. Darüber hinaus führt der durch Kriegshandlungen und militärische Demobilisierung verursachte wirtschaftliche Niedergang zu Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Entbehrungen, von denen meist auch die Mittelschicht betroffen ist. Auch dies erfordert häufig sozialpolitische Maßnahmen.

Zweitens verändern Kriege die Politik und das institutionelle Umfeld, was den Ausbau von Sozialpolitik in der Nachkriegszeit erleichtert. So gibt es zahlreiche empirische Belege dafür, dass Kriege Regierungen mit neuen fiskalischen Befugnissen und politischen Zuständigkeiten ausstatten. Kriege treiben Demokratisierung und Wahlreformen voran, führen zu einer Zentralisierung der Regierung und stärken die Machtressourcen der Arbeitnehmenden in den Arbeitsbeziehungen und der Politik. Auch kann der wirtschaftliche Wiederaufbau zu einem raschen Wirtschaftswachstum nach dem Krieg führen.

In Verbindung mit den enormen sozialen Problemen, die der Krieg verursacht, führen diese politischen und wirtschaftlichen Veränderungen häufig zur Entstehung neuer oder Ausweitung bestehender Sozialschutzprogramme. Nicht nur zwischenstaatliche Kriege haben einen Effekt auf Sozialpolitik, sondern auch Bürgerkriege können sich auf Sozialpolitik auswirken. Die systematische vergleichende Forschung dazu steckt allerdings noch in den Kinderschuhen."

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Seite 161055, aktualisiert 22.09.2023