Kinder zwischen Förderung – und Überforderung

Ob und wie Kleinkinder mit Technik umgehen sollten, ist umstritten

Kleinkind spielt mit Smartphone.
  • Forschung
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  • 28.06.2021
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  • Rita Braches-Chyrek
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  • Lesedauer: 14 Minuten

Führen die rasanten medialen und digitalen Entwicklungen dazu, dass sich kindliches Lebenfundamental verändert? Und falls ja, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen? Obwohl diese Fragen gesellschaftlich und pädagogisch bedeutsam sind, hat sich die deutschsprachige Kindheitsforschung bisher kaum damit beschäftigt. Das soll sich nun ändern.

Technische wie technologische Transformationen in spätmodernen kapitalistischen Gesellschaften machen es immer wieder notwendig, sowohl aus gesellschaftstheoretischen als auch aus erziehungswissenschaftlichen Perspektiven die Frage nach den Auswirkungen auf kindliches Leben und Erleben zu stellen. Bei diesen Veränderungen geht es vor allem um Digitalisierungsprozesse, die sich für Herrschafts- und Emanzipationszwecke eignen, wie Informatiker Jaron Lanier immer wieder zeigt. So führt Martina Heßler, Professorin für Technikgeschichte, sehr dezidiert aus: „Vom morgendlichen Aufstehen über das abendliche Zubettgehen bis in die Nacht hinein lässt sich heute kaum eine Handlung oder Erfahrung finden, die nicht mit Technik verwoben ist.“ Die Zusammenhänge und Veränderungen kindlicher Lebenswelten und Lebenslagen sind durch Technik in den deutschsprachigen gesellschafts- und erziehungswissenschaftlichen Analysen noch wenig untersucht.

Technisierung kindlicher Lebenswelten

Die Notwendigkeit des Einsatzes und der Umgang mit Technik wird insbesondere in der frühen Kindheit unterschiedlich beziehungsweise kontrovers diskutiert. Zum einen sollen Mädchen und Jungen Kindermedienangebote nutzen, um sich erste Wörter, Farben, mathematisches und naturwissenschaftliches Wissen anzueignen, da diese Fertigkeiten für eine spätere Gestaltung von Bildungsübergängen dienlich erscheinen. Technik und deren Nutzung ist demzufolge zu einer Bildungs-, Erziehungs- und Sozialisationsaufgabe geworden. Zum anderen wird immer wieder der Verlust an „natürlichen“ Erfahrungen durch die Technisierung kindlicher Lebenswelten thematisiert. Kindheit wird in der öffentlichen Wahrnehmung vielfach noch mit dem Konstrukt natürlich belegt und als Zeit einer gewissen magischen Unberührtheit idealisiert. Studien zu den veränderten Erfahrungen in der Kindheit werden vielfach von Besorgnis- und Sicherheitsdiskursen, der Thematisierung von Grenzverschiebungen durch die Veränderung der Nähe- und Distanzverhältnisse, von Autonomie und Schutz sowie möglichen Hybridisierungender privaten, intimen wie auch öffentlichen Bereiche von Betreuung, Erziehung und Bildung getragen. Hybridisierungbedeutet, dass Individualisierung, soziale Disziplinierung und Hervorbringung sozialer Kompetenzen zusammenhängen. Teilweise gibt es sehr dramatisierende Interpretationen, dass die eigentlich natürliche oder naturwüchsige Phase des Aufwachsens zunehmend durch eine verdinglichte und technisierte – insbesondere mediale – Sozialisation gerahmt wird, wobei die Folgen nicht absehbar sind. Solche Interpretationen führen häufig zu sehr unzusammenhängenden Momentaufnahmen gesellschaftlicher Veränderungen und könnten sowohl die Bedeutung als auch den Stellenwert von Technik in der Kindheit übertreiben. Es kommt darauf an, die Agency – also die Fähigkeiten – von Kindern und deren Verständnis von Welt, Gesellschaft und Politik zu erforschen.

Gegenwärtige Debatten zum Themenfeld Kindheit und Technik

Es können jedoch gemeinsame Dimensionen in gegenwärtigen Debatten skizziert werden, die sich mit den Begriff en Beschleunigung, Verlust, Selbstverständlichkeit und Vergesellschaftung in neuer Weise umschreiben lassen. Diese Tendenzen lassen Fragen nach Stärkung oder Schwächung von Subjektivität, Handlungskompetenz und politischem Bewusstsein dringlich werden. Bereits vor mehr als 20 Jahren haben die Soziologen Ian Hutchby und Jo Moran-Ellis in dem von ihnen edierten Band Children, Technology and Culture. The impacts of technologies in children’s everyday lives (2001) folgendes herausgearbeitet: Es muss ganz zentral um die Frage gehen, wie Kinder und Technik(en) sich zueinander verhalten, welche Ein- und Ansichten sich Kinder in Prozessen von Bildung und Erziehung wie in der Auseinandersetzung mit Technik(en) erarbeiten oder ausgesetzt sehen. Dabei gilt zudem, wie die Pädagogen Shirley Steinberg und Joe Kincheloe ebenfalls schon vor 20 Jahren formuliert haben, als Devise: „Wir können unsere Kinder nicht vor dem Wissen über die Welt schützen, das ihnen die Hyperrealität zur Verfügung gestellt hat.“ Deren mögliche emanzipatorische Potentiale haben sie so bestimmt: „Wir müssen Bildung, erzieherische Fähigkeiten und soziale Institutionen weiterentwickeln, sodass wir unseren Kindern in Anbetracht dieser kulturellen Revolution beibringen, dem Informationschaos in der Hyperrealität einen Sinn zu geben. “Neben der Allgegenwärtigkeit von Technik im Leben von fast allen Kindern in Form von digitalen Endgeräten, wie beispielsweise Smartphones und PCs, sind aber auch biotechnologische Verfahren der Reproduktionsmedizin als überaus bedeutsame digitale Technologien in den Blick zu nehmen. Diese bestimmen das Leben heutiger Kinder vom status nascendi beziehungsweise von Geburt an und formieren Kindheit in einer digitalisierten Gesellschaft.

Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale

Ausgehend von der Einsicht, dass es nicht möglich ist, das Thema Kindheit und Technik entlang bisheriger disziplinärer Kerngedanken zu betrachten, bedarf es nicht nur eines veränderten Grundverständnisses, um notwendiges Theorie- und Empiriewissen zur Analyse der Zusammenhänge und Veränderungen kindlicher Lebenswelten und Lebenslagen diskutieren zu können. Die Begründungen, Überzeugungen und Traditionen über die Anerkennungsmöglichkeiten des kindlichen Status, ihrer Stimme, ihrer Handlungsfähigkeit, ihrer Einsichten und Perspektiven – auch im Hinblick auf die Beziehung zwischen den Generationen – sind verschieden. Diese unterschiedlichen Aspekte und die notwendigen Entwicklungs-, Lern- und Bildungs-zusammenhänge werden in vier Kernbereichen im Handbuch Kindheit, Technik und das Digitale entfaltet und zur Diskussion gestellt:

  • Technik und Gesellschaft
  • Digitalisierung und Mediatisierung von Kindheit
  • Digitales Konstruieren, Spielen und Handeln
  • Digitalisierung und digitale Bildung in Institutionen

Wie die Technisierung aller Lebensverhältnisse Kindheit mitgestaltet und das Aufwachsen, Leben, Agieren, Erfahren und Lernen von Kindern formt, ist Gegenstand des Handbuches. Herausgegeben wurde es von Rita Braches-Chyrek, Jo Moran-Ellis, Charlotte Röhner und Heinz Sünker. Im Handbuch werden unterschiedliche Bedeutungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in formellen und informellen, alltäglichen wie institutionell geformten Kontexten des Kinderlebens analysiert und im Hinblick auf die Beförderung beziehungsweise Behinderung von Kindeswohl und Subjektivität freisetzenden Bildungsprozessen untersucht.

Literaturempfehlung:

  • Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner, Jo Moran-Ellis, Heinz Sünker (Hrsg., 2021): Handbuch Kindheit. Technik und das Digitale.
  • Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner, Heinz Sünker, Michaela Hopf (Hrsg., 2020): Handbuch Frühe Kindheit. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage.
  • Rita Braches-Chyrek, Charlotte Röhner, Heinz Sünker (Hrsg., 2012): Kindheiten. Gesellschaften. Interdisziplinäre Zugänge zur Kindheitsforschung.
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Seite 147769, aktualisiert 26.10.2021