Virtual History

Geschichtswissenschaft im Zeichen der digitalen Transformation

Eine Frau benutzt den Monitor als virtuellen Museumsführer.
  • Forschung
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  • 28.06.2021
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  • Werner Scheltjens
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  • Lesedauer: 17 Minuten

Das Zusammenspiel von Mensch und Maschine prägt zunehmend die historische Forschung. Unter dem Einfluss der Digitalisierung und des Web 2.0 eröffnen sich neue Möglichkeiten: In virtuellen Forschungsräumen kommen automatisierte Verfahren für die digitale Quellenarbeit zum Einsatz und es entstehen neuartige Formen der Zusammenarbeit.

Die Geschichtswissenschaft bleibt vom Einfluss der digitalen Transformation nicht unberührt. Heute findet man kaum noch Historikerinnen oder Historiker, die ohne PC, Office-Paket, Internetverbindung, Scanner und Drucker auskommen. Zunehmend werden auch mobile Endgeräte für den historiographischen Produktionsprozess eingesetzt, zum Beispiel um Handschriften einzuscannen oder um mit interaktiven Apps Forschungsergebnisse an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Auswirkungen der digitalen Transformation beschränken sich also keineswegs auf die Büroausstattung. Der digitale Wandel greift in alle Phasen des historiographischen Arbeitens ein – von der Quellensuche bis zur Interpretation, Darstellung und Sicherung von Forschungsergebnissen. Im Zuge des digitalen Wandels nutzen Forschende die sich bietenden Chancen und technischen Möglichkeiten für den Umgang mit historischen Quellen, benutzen bewährte Methoden der Quellenarbeit in neuen Kontexten, und verstärken und erweitern so ihre methodischen Kompetenzen. Ebenso bietet die digitale Transformation neue Möglichkeiten für die Öffentlichkeitswirkung der historischen Wissensproduktion und -verbreitung. Mit der zunehmenden Digitalisierung von historischen Beständen sowie mit der Entwicklung von virtuellen Forschungsräumen eröffnen sich neue Formen der Zusammenarbeit in Forschungsprojekten sowie der Durchführung von interaktiven Projekten mit Bürgerbeteiligung. Gleichwohl erfordert die digitale Transformation von Historikerinnen und Historikern eine hohe Affi nität zu elektronischen Geräten, Software-Anwendungen und digitalen Datenbanken.

Historische Forschung im virtuellen Raum

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Geschichtswissenschaften sind kaum zu übersehen: Während noch vor 20 Jahren für Forschungs-projekte wochenlange Aufenthalte in Archiven und Bibliotheken im In- und Ausland eingeplant werden mussten, stehen heute weltweit Millionen eingescannte Akten, Bilder und Bücher per Mausklick zur Verfügung. Archive und Bibliotheken bieten das Digitalisieren von noch nicht verfügbaren Unterlagen als Service an. Wenn trotz allem ein Archivbesuch notwendig ist, dann meistens nur noch mit einer Digitalkamera in der Hand, um den Aufenthalt so kurz und effizient wie möglich zu gestalten. Die Auswirkungen der Verlagerung von historischen Quellenbeständen in digitale Räume auf die Forschungspraxis sind unverkennbar. Sowohl die Quellensuche, die Auswertung und Interpretation als auch die Darstellung und Langzeitarchivierung von Forschungsergebnissen entfalten sich nunmehr im Dialog zwischen Mensch und Maschine. Bei der Literatur- und Quellenrecherche wird die herkömmliche Schlagwort- oder systematische Suche um Funktionen erweitert, die es möglich machen, Volltexte oder Bilder als Ausgangspunkt für die Literatur- und Quellenrecherche zu nutzen. Die Suchmaschine liest gewissermaßen die Texte, identifi ziert und ordnet automatisch die Kernbegriffe im Text, und benutzt diese für die Bereitstellung von möglichst genauen Suchergebnissen. In einem Atemzug wird dadurch auch die Schlagwort- oder systematische Suche zunehmend interaktiv: Auf der Nutzeroberfläche werden weiterführende Funktionen angeboten, um die Suchergebnisse nach eigenen Einsichten zu optimieren und zu verfeinern. Auch in der Auswertung von Quellen werden zunehmend rechnergestützte Methoden eingesetzt. Immer effizientere Werkzeuge für die Erkennung von Handschriften tragen zur automatisierten Erfassung von historischen handschriftlichen Quellen bei. Auch hier treten Historikerinnen und Historiker mit der Maschine in den Dialog, um Ergebnisse zu überprüfen, Korrekturen vorzunehmen und schließlich die zugrunde gelegten Algorithmen auch mit Blick auf andere Nutzerinnen und Nutzer zu verbessern. Diese zu berücksichtigen, wird schließlich auch in der Darstellung und Verfügbarmachung von erhobenen und ausgewerteten Daten im Zuge der digitalen Transformation wichtiger. Es genügt nicht mehr, ein Projekt mit Veröffentlichungen in Zeitschriften oder als Monografie abzuschließen: Auch die digitalen Forschungsdaten sollten in eigens dafür entwickelten Repositorien nach bestimmten Vorgaben beschrieben, gespeichert und so dauerhaft verfügbar gemacht werden. Repositorien sind Dokumentenserver, auf denen Forschende wissenschaftliche Dokumente veröffentlichen.

Zusammenarbeit im Web 2.0

Die Offenlegung der eigenen Quellenarbeit für die Nachnutzung geht mit einem zunehmenden Bewusstsein für die gesellschaftliche Aufgabe und Relevanz der historischen Forschung einher. Noch stärker als in der individuellen historischen Forschung kommt dies in der Gestaltung von kollaborativen, also gemeinsamen, Forschungsprojekten zum Ausdruck. Digitalisierungsprojekte historischer Quellen greifen dafür auf die Vielzahl verfügbarer digitaler Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten zurück, um mit diesen gemeinsam die Erfassung, Erschließung und Auswertung von historischen Quellen anzugehen. Oft liegt dabei der gemeinsame Charakter eines Projektes in der Gründung einer geschlossenen Forschungsgruppe, die von einem Informatikteam bei einem historischen Forschungsvorhaben, wie zum Beispiel der Erstellung und Online-Veröffentlichung einer digitalen Quellenedition, aktiv unterstützt wird. Sowohl in der traditionellen Geschichtswissenschaft als auch in der historischen Sozialwissenschaft hat diese Form der Zusammenarbeit eine jahrzehntelange Vorgeschichte. Mehr und mehr findet jedoch auch die digitale Zusammenarbeit in offenen Konstellationen Eingang in die historische Forschung. Dabei werden die Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten des Web 2.0 für die aktive Beteiligung der Bevölkerung an der gemeinsamen Erschließung von historischen Quellen gezielt eingesetzt. Vele Handen, auf Deutsch Viele Hände, heißt die niederländische Plattform, die zu diesem Zweck eingerichtet wurde, und das bringt den Charakter dieser neuen Form des kollaborativen Arbeitens genau auf den Punkt. Alle Interessierten können am eigenen Rechner einen direkten Beitrag an die historische Forschung liefern und bekommen zugleich Einblicke in die Quellen der Vergangenheit sowie in die Arbeit von Historikerinnen und Historikern.

Die Zukunft der Geschichtswissenschaft

Die digitale Transformation hält viele Chancen für die Geschichtswissenschaft bereit. Aber jede Chance konfrontiert die Forschenden auch mit neuen Risiken und Herausforderungen. Sie müssen den Einfluss von automatisierten Verfahren in der Quellensuche, in der Interpretation von Quellen sowie in ihrer Darstellung in digitaler Form genau auf seine Auswirkungen hinsichtlich der bewährten historischen Methode untersuchen. Zentrale Kompetenzen im Umgang mit handschriftlichen Quellen sollten durch den Einsatz von Software für die Erkennung von Handschriften erheblich erweitert werden: Auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen nicht mehr nur die Fragen der traditionellen Quellenkritik zu. Sie werden zusätzlich mit Fragen nach der Zuverlässigkeit automatisch generierter Daten konfrontiert und sind angehalten, auch dazu kritisch Stellung zu nehmen. Vor ähnlichen Herausforderungen steht die kollaborative Arbeit in virtuellen Forschungsräumen, so dass in der Summe festgehalten werden kann, dass auf künftige Generationen von Historikerinnen und Historikern keine geringen Aufgaben zukommen. Gleichwohl bietet die digitale Transformation nie dagewesene Möglichkeiten, um das Geschichtsbewusstsein und das Erleben von Geschichte in die Öffentlichkeit zu bringen. Diese Chance sollte man mit vielen Händen ergreifen.

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Seite 147770, aktualisiert 26.10.2021