Wenn Geld die Welt digital regiert

Informationstechnologie im Finanzsystem: Fluch oder Segen?

Symbolbild für Finanzen und Wirtschaft
  • Forschung
  •  
  • 14.07.2021
  •  
  • Christian Proaño
  •  
  • Lesedauer: 19 Minuten

Ist das Finanzsystem, das von technischen Entwicklungen profitiert, dienlich für die Gesellschaft oder nicht? Es gibt kaum Zweifel daran, dass ein funktionierendes Finanzsystem für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes notwendig ist. Dennoch deuten die zahlreichen Krisen der Vergangenheit darauf hin, dass Finanzmärkte auch eine Gefahr für die Stabilität der gesamten Volkswirtschaft darstellen können. Das zeigte zum Beispiel die globale Finanzkrise 2007 und 2008 in aller Deutlichkeit.

Im Gegensatz zur Nachkriegszeit bis hin zu den frühen 1970er-Jahren ist die Bedeutung des Finanzsektors in den letzten dreißig Jahren deutlich gestiegen – nicht nur in rein ökonomischer, sondern auch in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht. Das thematisierte zum Beispiel die interdisziplinäre Konferenz Realität und Wahrnehmung von Finanzmärkten in der Gegenwart, welche 2018 von der Bamberger Graduate School of Literary, Cultural & Media Studies und vom VWL-Promotionskolleg Makroökonomik bei beschränkter Rationalität ausgerichtet wurde. Film-Klassiker wie Wall Street stellen die Finanzwelt mit einem besonderen Glanz dar. Das unterstreicht deren Besonderheit, auch gegenüber der Main Street, also der realwirtschaftlichen Sphäre. Aber auch in der Realität ist kaum zu übersehen, welchen Einfl uss Großbanken wie Goldman Sachs, die Deutsche Bank oder Investment-Gesellschaften wie Blackrock auf politische Akteure rund um den Globus haben. Dies spiegelt sich nicht nur in der ständigen An- und Abwerbung von Führungspersonen von Seiten des Staates und der Finanzwelt wider, sondern auch in der bevorzugten Behandlung von Wirtschafskriminellen.

Zentrale Rolle der Informationstechnologie

Die bedeutenden Entwicklungen im Bereich der Informationstechnologie haben eine zentrale Rolle in diesem Transformationsprozess gespielt. Mit den permanent ansteigenden Rechenkapazitäten von Computern stiegen auch die Möglichkeiten, zahlreichere und komplexere Finanzprodukte zu entwickeln und abzuwickeln, also einzukaufen und zu verkaufen. Dadurch konnte der Finanzsektor in vielen Volkswirtschaften relativ zu anderen Sektoren an Größe und Bedeutung gewinnen, wie die Grafik oben exemplarisch für die Vereinigten Staaten zeigt. Wie deutlich zu sehen ist, hat sich das Verhältnis von der Bruttowertschöpfung des FIRE (Finance and Real Estate), also des Finanz- und Immobiliensektors, zum US-Bruttoinlandsprodukt in den letzten 70 Jahren mehr als verdoppelt. Das ist in den Vereinigten Staaten geschehen, der größten Volkswirtschaft der Welt und dem weltweiten Vorreiterland dieser Entwicklung. Auch der Wert der weltweit gehandelten Aktien wuchs im Verhältnis zum Welt-Bruttoinlandsprodukt von 17,5 Prozent im Jahr 1984 auf 162 Prozent im Jahr 2015. Tatsächlich ist das Treiben der Finanzmärkte ohne den Einsatz von Informationstechnologie unvorstellbar, allein durch die schiere Dimension des Umsatzes, also des Werts der gehandelten Finanzprodukte: 6.590 Milliarden US-Dollar allein am weltweiten Devisenmarkt im Jahr 2019. Die wachsende Verfügbarkeit rechenintensiver Möglichkeiten beförderte darüber hinaus den ver-stärkten Einsatz des automatisierten technischen Handels (Technical Analysis). Darunter versteht man den An- und Verkauf von Finanzmarktprodukten auf Basis von vordefinierten Algorithmen und Handlungsregeln, die sich nach gewissen Mustern richten. Wenn zum Beispiel der Preis einer Aktie für drei Tage in Folge um mehr als zwei Prozent gestiegen ist, erhält ein Computer die Anweisung, diese Aktie automatisch zu verkaufen. Der Einsatz solcher Methoden erklärt die exzessive Volatilität, also die Schwankungen, die in vielen Aktien- und anderen Finanzmärkten zu beobachten sind, sowie die Entstehung von Preisblasen und deren abruptes Enden. Das zeigen theoretische und experimentbasierte Untersuchungen im Feld der verhaltensbasierten Ökonomik, so wie sie von einigen Mitgliedern des Instituts für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg unternommen werden.

Regulierung des Finanzsystems ist nötig

Die technologischen Fortschritte der letzten Jahre im Bereich des maschinellen Lernens (MachineLearning) können aber auch dafür verwendet werden, die Einschätzung des Fundamentalwerts zu ermitteln, sozusagen den richtigen Preis einer Aktie. Theoretisch betrachtet sollte der richtige Preis einer Aktie dem Barwert der erwarteten zukünftigen Gewinne entsprechen. Der Einsatz von maschinellem Lernen kann also durch eine strukturierte Durchforstung von riesigen Datenmengen eine bessere Einschätzung der wahren Profitaussichten eines Unternehmens liefern als die Mehrheit der Analystinnen und Analysten. Zumindest in der Theorie sollte dadurch die Entstehung von irrationalen Finanzmarkt-Blasen, also Preissteigerungen eines Finanzproduktes, die von dessen realem Wert entkoppelt sind, weniger wahrscheinlich werden. Die Informationstechnologie ermöglicht aber auch eine höhere Vernetzung von Personen, welche sich über virtuelle Plattformen wie Reddit absprechen und koordinieren, um die Finanzmärkte zu manipulieren, wie das jüngste Beispiel von Gamestop zeigt. Wie in den Medien prominent im Februar 2021 diskutiert wurde, beschlossen Kleinanlegerinnen und -anleger über einen Chatroom der Reddit-Plattform, in einer koordinierten Weise Aktien des Unternehmens Gamestop zu erwerben, die allgemein als nicht gewinnversprechend erachtet wurden. Diese erhöhte Nachfrage trieb den Kurs der Gamestop-Aktien nach oben und brachte somit institutionelle Anleger in Schwierigkeiten, die auf einen fallenden Kurs gesetzt hatten. Was früher nur der Wall Street oder der Londoner City Elite vorbehalten war, also die Möglichkeit, (illegale) Absprachen zu treffen, ist zu einem gewissen Grad durch Plattformen wie Reddit gewissermaßen demokratisiert worden. Die Informationstechnologie und die fortschreitende Digitalisierung unseres Wirtschaftssystems birgt viele Chancen, aber auch viele Gefahren hinsichtlich der Rolle des Finanzsystems in unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Aus diesem Grund bedarf es einer Regulierung des Finanzsystems, welche auf der Höhe der technischen Entwicklungen ist. Dies ist jedoch kein einfaches Unterfangen, denn die Komplexität vieler Finanzprodukte und -transak-tionen, die in vielen Fällen sogar länderübergreifend sind, erschwert dies erheblich. Aber auch die Entste-hung von Kryptowährungen, deren Schöpfung sich der staatlichen Kontrolle entzieht, stellt eine große Herausforderung dar, die das Zusammenspiel zwischen der Finanzwelt und der realwirtschaftlichen Sphäre grundlegend verändern könnte.

Literaturempfehlung:

  • Lena Dräger, Christian R. Proaño (2020): Cross-Border Banking and Macroprudential Policies in Asymmetric Currency Unions. Macroeconomic Dynamics 24(2), S. 255-290.
  • Till Strohsal, Christian R. Proaño, Jürgen Wolters (2019): Characterizing the Financial Cycle: Evidence from the Frequency Domain. Journal of Banking and Finance 106, S. 568-591.
  • Till Strohsal, Christian R. Proaño, Jürgen Wolters (2018): Assessing the Cross-Country Interaction of Financial Cycles: Evidence from a Multivariate Spectral Analysis of the US and the UK. Empirical Economics 57(2), S. 385-398
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Seite 147765, aktualisiert 26.10.2021