Welche Schnittstellen gibt es zwischen der frühen Umweltbewegung und US-Amerikanischer Literatur?

Amerikanistin Christine Gerhardt mit dem englischsprachigem Buch "A Place for humility" in der Hand
  • Forschung
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  • 14.01.2022
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  • Christine Gerhardt
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  • Lesedauer: 2 Minuten

Die Umweltkrise ist auch eine Krise der Vorstellungskraft, deshalb sind Literatur und Umweltbewegung untrennbar miteinander verbunden, gerade in den USA. Mitte des 19. Jahrhunderts kam die amerikanische Literatur erstmals zur vollenBlüte – formal und inhaltlich autonom, radikal innovativ und international beachtet. Die scheinbar unbegrenzte Natur war ein zentrales Thema, und mehr noch: Sie wurde zur Basis eines neuen, demokratischen Ideals und bot formalästhetische Inspiration. Zeitgleich änderte sich der gesamtgesellschaftliche Blick auf die Umwelt. Galt die Natur bis dahin primär als zu überwindendes Hindernis und wirtschaftliche Ressource, sahen viele nun ihre Verletzlichkeit, ja Endlichkeit, und diskutierten ihren Wert an sich. Es ist kein Zufall, dass der Begriff Ökologie in dieser Zeit geprägt wurde.

Die Literaturwissenschaft fragt nach dem Verhältnis dieser beiden historischen Wendepunkte und hat damit einen Paradigmenwechsel angestoßen: Die Literatur der Romantik gilt nun als Vordenkerin eines ganzheitlichen ökologischen Blicks – vor allem durch ihren Fokus auf eine neue Sprache, die es ermöglicht, das Zusammenspiel aller Lebensformen auszudrücken. Die amerikanische Lyrik von Walt Whitman und Emily Dickinson ist hierfür das schillerndste Beispiel. Wie zeigt sich das konkret? In der wertschätzenden Darstellung des kleinsten Grashalms und der „nutzlosesten“ Mücke in dynamischen Ökosystemen und als Basis globalen (Über-)Lebens. Im Ausloten menschlicher Abhängigkeit von der nichtmenschlichen Umwelt, bis in die eigene Körperlichkeit; in der Kritik an Kolonialismus und Domestizierung auch mit Blick auf Flora, Fauna, Land und Wasser. Im Bewusstsein des Scheiterns unserer Bemühungen um ein nicht-zerstörerisches Leben in und mit der Natur, bei gleichzeitigem Getragensein von eben dieser Vision. Und in der Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des eigenen Schreibens, gerade in der scheinbaren Vollendung von Whitmans weit ausholendem freien Vers und Dickinsons knapper Sprachkunst. Aus heutiger Sicht erschließt sich das radikale Umweltverständnis romantischer Literatur mit besonderer Vehemenz und verdichtet sich im Konzept der Umwelt-De-
mut, der environmental humility.

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Seite 148733, aktualisiert 14.02.2022