Soziale Ungleichheit in der Gesundheit

Trotz enormer Verbesserungen in der Gesundheit bestehen große Unterschiede zwischen sozialen Gruppen

Ein Arzt legt seine Hand auf die Hand eines Patienten.
  • Forschung
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  • 20.10.2022
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  • Rasmus Hoffmann
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  • Lesedauer: 7 Minuten

In den letzten 150 Jahren hat sich die Lebenserwartung und Gesundheit der Deutschen deutlich verbessert. Aber gleichzeitig gibt es hier erhebliche soziale Ungleichheit, die im Bereich der öffentlichen Gesundheit als Problem erkannt und behandelt wird. Aber was sind die Ursachen dafür? Welche Strategien gibt es, um den Gesundheitszustand zwischen sozialen Gruppen anzugleichen? Und warum haben die bisherigen Maßnahmen so wenig Erfolg?

Die Bevölkerung in Deutschland erfreut sich immer höherer Lebenserwartung und immer besserer Gesundheit. Im Jahr 1871 geborene Kinder hatten eine durchschnittliche Lebenserwartung von circa 40 Jahren. Das bedeutet nicht, dass die meisten Leute schon mit 40 Jahren starben, sondern viele kurz nach Geburt gestorbene Kinder mit 0 Jahren in die Berechnung eingingen. Für im Jahre 2020 Geborene kann man auf etwa 90 Lebensjahre hoffen, je nachdem welche Fortschritte bei der Gesundheit man bis 2110 noch vermutet. Das heißt, in den letzten 150 Jahren wurde das Leben 50 Jahre länger. Oder anders ausgedrückt: Ein Jahrzehnt später geboren zu werden, bedeutet ein drei Jahre längeres Leben.

Der Anteil der gesunden Lebensjahre hat mit dieser Entwicklung Schritt gehalten, das heißt die gesunde Lebenszeit ist ungefähr proportional mitgestiegen. Heute sind 70-Jährige so gesund wie vor wenigen Jahrzehnten die 60-Jährigen. Diese erfreulichen Entwicklungen sind nur zu etwa einem Viertel auf den medizinischen Fortschritt im engeren Sinne, also der individuellen medizinischen Behandlung von Krankheiten, zurückzuführen. Drei Viertel gehen auf das Konto der allgemeinen Zunahme von Wohlstand, Bildung und Public-Health-Maßnahmen, also der Prävention von Krankheiten.

Sozial ungleiche Verteilung von Gesundheit

Wenn man nun die soziale Verteilung dieser Entwicklung betrachtet, fällt auf, dass sie zwischen sozioökonomischen Gruppen sehr unterschiedlich verläuft. Zwar haben in Deutschland alle untersuchten sozialen Gruppen, zum Beispiel Bildungs-, Berufs- oder Einkommensgruppen, eine Verbesserung erfahren, aber in unterschiedlichem Ausmaß. Insgesamt bestehen erhebliche soziale Unterschiede in der Gesundheit, die sich vermutlich auch weiter vergrößern. Leider ist in Deutschland unter anderem aus Datenschutzgründen der Kenntnisstand weniger gut als in anderen europäischen Ländern. Man kann aber davon ausgehen, dass auch in
Deutschland die Lebenserwartung wohlhabender Menschen etwa 10 Jahre höher ist als diejenige ärmerer Menschen und dass die gesunde Lebenserwartung sich sogar um 15 bis 20 Jahre unterscheidet. Das bedeutet, dass arme Menschen nicht nur wesentlich kürzer leben, sondern auch einen größeren Anteil ihres Lebens in Krankheit verbringen. Häufig wird in Studien zur gesundheitlichen Ungleichheit die Variable Bildung zur hierarchischen Einteilung in soziale Gruppen benutzt. Aber es ist eine offene Frage, wieviel die Bildung ausmacht, zum Beispiel im Vergleich zum Beruf oder zum Einkommen. Das ist schwer zu beantworten, weil diese drei Dimensionen sozialer Ungleichheit zusammenhängen und im Lebenslauf in einer Abfolge einander bedingen. In statistischen Modellen, in denen alle drei Dimensionen zusammen betrachtet werden, sind die Gesundheitsunterschiede zwischen Einkommensgruppen meistens größer als die Unterschiede zwischen Bildungs- oder Berufsgruppen.

Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit

Im Prinzip ist die Unterscheidung zwischen Bildung, Beruf und Einkommen bereits eine Art der Ursachenforschung. Denn wenn höhere Bildung an sich, also direkt, zu besserer Gesundheit führt, ist dies eine andere kausale Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit, als wenn besser Gebildete vor allem deshalb bessere Gesundheit haben, weil sie auch mehr Geld haben. Zur Ursachenforschung gehören aber noch ganz andere Faktoren, die man zum Beispiel in die drei Kategorien materielle, psychosoziale und Verhaltensfaktoren einordnen kann. Eine andere Kategorisierung benutzt das Begriffspaar Verhältnisse für den sozioökonomischen Status einer Person und Verhalten für gesundheitsrelevante Aktivitäten wie Rauchen, Trinken, Sport und Ernährung.

Die Gesundheitsforschung hat den relativen Beitrag verschiedener Verhaltensdimensionen quantifiziert und festgestellt, dass gesundheitliche Ungleichheit erheblich abnehmen würde, wenn zum Beispiel alle sozialen Gruppen gleich viel rauchen oder trinken würden. Aber ebenso klar ist, dass man mit einer Angleichung der Verhältnisse wie Verringerung von Armut, Arbeitslosigkeit oder überhaupt von sozialer Ungleichheit mehr erreichen würde. Denn dies sind Faktoren, die am Anfang einer langen Verursachungskette stehen und eher indirekt, aber dafür auf vielfältige Weise der Gesundheit schaden. Sie sind ebenfalls wichtige Ursachen ungesunden Verhaltens.

Ähnlich wie bei der obigen Betrachtung der durchschnittlichen Gesundheitsverbesserung wird auch bei der gesundheitlichen Ungleichheit dem medizinischen System nur eine kleine Rolle zugeschrieben, unter anderem weil es häufig zu spät, nämlich bei der Behandlung schon bestehender Krankheiten, aktiv wird. Dabei hat die Forschung gezeigt, dass der Schritt von Gesundheit zur Krankheit sozial viel ungleicher abläuft als die dann folgende Verschlechterung einer Krankheit oder der Schritt zum Tod. Dies kann an biologischen Prozessen der Krankheitsentwicklung selbst liegen, aber auch daran, dass Patient*innen nicht besonders ungleich behandelt werden; zumindest nicht ungleicher als ihre Lebensumstände und ihr Alltagsverhalten sind.

Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit

Das bedeutet, dass eine Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit am ehesten im Bereich der Prävention, also zumeist im privaten Alltag, erreicht werden kann. Innerhalb dieses alltäglichen Bereichs kann in Verhältnis- und Verhaltensprävention unterschieden werden. Trotz zahlreicher Hinweise aus Forschung und Praxis, dass die sozialen Verhältnisse der beste Ansatzpunkt gegen gesundheitliche Ungleichheit sind, versuchen die meisten Maßnahmen das Gesundheitsverhalten zu ändern. Maßnahmen im Bereich Tabak, Alkohol, Bewegung und Ernährung sind sinnvoll und als Strategie leicht zu rechtfertigen. Aber zum einen haben Maßnahmen, die nicht zielgruppenspezifisch sind, häufig den unbeabsichtigten Nebeneffekt, dass sowieso schon privilegierte und gesündere Gruppen mehr von der Maßnahme profitieren als weniger gesunde, also die Ungleichheit sogar vergrößert wird. Zum anderen drängt sich der Eindruck auf, dass die Verringerung der allgemeinen sozialen Ungleichheit vermieden wird, weil dazu der politische Wille und eventuell auch politische Mehrheiten fehlen.

Diskussion über Gerechtigkeit

Dies könnte daran liegen, dass in der Gesellschaft die Meinungen darüber auseinandergehen, ob eherder Staat für das individuelle Wohlergehen und Gleichheit verantwortlich ist oder eher die freien ungleichen Individuen. Es wird nur selten differenziert darüber diskutiert, in welchem Maße gesundheitliche Ungleichheit auch Ungerechtigkeit darstellt. Diese Debatte taucht gelegentlich hinter methodisch anspruchsvollen Forschungsthemen auf, wie zum Beispiel der Frage, ob Armut krank macht (social causation) oder Krankheit arm (health selection). Darauf könnte man antworten, dass in einem funktionierenden Wohlfahrtssystem beides gleichermaßen verhindert werden sollte, aber viele Menschen empfinden Krankheit aufgrund von Armut als ungerechter als Armut aufgrund von Krankheit. Im Bereich Öffentliche Gesundheit (Public Health Community) gibt es darüber hinaus viel Verwunderung darüber, dass bei steigendem Wohlstand und besserer Gesundheit die Ungleichverteilung der Gesundheit nicht abnimmt. Dabei ist es in einer ungleichen Gesellschaft eigentlich nicht überraschend, dass ein so steiler gesundheitlicher Aufstieg, wie er eingangs skizziert wurde, benachteiligte Menschen zurücklässt. Aber dies könnte verhindert werden.

Literaturempfehlung:

  • Rasmus Hoffmann, Hannes Kröger, Lasse Tarkiainen, Pekka Martikainen (2020): Mortality by education, occupational class and income in Finland in the 1990s and 2000s. Longitudinal and Life Course Studies, 11(4), S. 551–585.
  • Rasmus Hoffmann, Hannes Kröger, Eduwin Pakpahan (2018): Pathways between socioeconomic status and health: Does health selection or social causation dominate in Europe? Advances in Life Course Research, 36, S. 23–36.
  • Terje A. Eikemo, Rasmus Hoffmann, et al., Johan P. Mackenbach (2014): How can inequalities in mortality be reduced? A quantitative analysis of 6 risk factors in 21 European populations. PLoS One, 9(11).
  • Rasmus Hoffmann (2011): Illness, not age, is the leveler of social mortality differences in old age. Journal of Gerontology: Social Sciences, 66(5), S. 374–379.
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Seite 154562, aktualisiert 21.10.2022