Warum materielles nicht ohne immaterielles Kulturerbe auskommt

Am Beispiel des Handwerks

Eine junge Frau arbeitet mit Hammer und Meißel
  • Forschung
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  • 19.09.2023
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  • Lesedauer: 6 Minuten

Zum immateriellen Kulturerbe gehören handwerkliche Praktiken und Techniken. Das Handwerk war und ist dabei mit bestimmten gesellschaftlichen Zuschreibungen verbunden: Sie reichen von positiven Konnotationen wie Qualität und Verlässlichkeit, aber auch Anstrengung und Schmutz bis hin zu einer geringeren Wertschätzung im Vergleich zu geistiger Arbeit. Europäisch-ethnologische Feldforschungen und Interviews mit Auszubildenden zeigen die Bedeutung und identitätsstiftende Funktion des immateriellen Kulturerbes am Beispiel des Handwerks auf.

Seit einigen Jahren ist der Blick auf den Bamberger Himmelsgarten durch die Restaurierungsarbeiten in der ehemaligen Klosterkirche von St. Michael versperrt. Wo normalerweise die einzigartigen Gewölbemalereien mit ihren fast 600 verschiedenen Pflanzendarstellungen zu sehen sind, füllt derzeit ein deckenhohes Gerüst den gesamten Raum. Einheimische wie Tourist*innen haben über ein virtuelles Bautagebuch des Zentrums Welterbe Bamberg die Möglichkeit, den Fortschritt wöchentlich mitzuverfolgen; und wer das berühmte Herbarium zu sehr vermisst, kann sich in der Altstadt mit Himmelsgarten-Accessoires eindecken. Das Kloster St. Michael nimmt zweifelsohne eine zentrale Stellung innerhalb des durch die UNESCO ausgezeichneten Bamberger Altstadtensembles und damit auf materieller architektonischer Ebene ein.

Gleichzeitig verweist seine aufwändige Instand­setzung und deren ebenso aufwändige
Vermittlung durch regelmäßig auf der Baustelle anwesende Filmteams, 3-D-Visualisierungen und bestän­dig aktualisierte Homepage-Einträge auf
verschiedene immaterielle Bedeutungsebenen. Da­zu zählen zum einen identitätsstiftende Funktionen für die Stadtgesellschaft – zumal angesichts der Verbindungen von Paradiesgarten-Darstellung und ‚Gärtnerstadt‘ Bamberg. Zum anderen vermittelt die öffentliche Dokumentation der Restaurierungsfortschritte Verlässlichkeit und Expertenwissen der daran beteiligten Berufsgruppen. Die Erfahrungen, Praxen und Traditionen von Kirchenmaler*innen, Glaser*innen oder Steinmetz*innen werden teils seit Jahrhunderten weitergegeben. Entsprechende handwerkliche Fertigkeiten sind daher wesentliche Bestandteile nationaler beziehungsweise internationaler Immaterielles Kulturerbe-Verzeichnisse und damit eine Grundlage für den Erhalt auch des materiellen Erbes.

Was ist Immaterielles Kulturerbe?

Die UNESCO-Kommission verabschiedete 2003 die sogenannte Konvention zum Erhalt des Immateriellen Kulturerbes. Darunter fallen konkret die fünf Kategorien von

•          mündlich überlieferten Traditionen und Ausdrucksformen einschließlich Sprache,

•          darstellenden Künsten (zum Beispiel Musik, Tanz, Theater),

•          gesellschaftlichen Bräuchen, Ritualen und Festen,

•          Wissen und Bräuchen in Bezug auf die Natur und das Universum sowie

•          traditionellen Handwerkstechniken.

Der Prozess der Ernennung beruht auf einem Bottom-up-Verfahren. Einzelne sogenannte Trägergruppen, also die das jeweilige kulturelle Erbe ausübenden Akteur*innen, bewerben sich zunächst für die Aufnahme in nationale Listen. Aus diesen wiederum wurden bisher sieben Immaterielles-Kulturerbe-Formen in die internationale Liste der UNESCO aufgenommen. Zu den Beispielen aus Deutschland: www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe.

Forschungsperspektive Handwerkspraxen und -techniken

Es geht beim immateriellen Kulturerbe also – anders als bei den bereits seit 1972 regelmäßig als UNESCO-Welterbe ausgezeichneten Gebäuden, Ensembles oder archäologischen Stätten – in erster Linie um die beteiligten Menschen und damit um genuine Forschungsfelder der aus der ehemaligen Volkskunde hervorgegangenen Europäischen Ethnologie. Aus dieser Fachperspektive heraus wird kulturelles Erbe zunächst einmal als kulturelle Konstruktion verstanden, spezifische Phänomene werden durch bestimmte Akteursgruppen mit Bedeutung aufgeladen. Damit stehen weniger Fragen nach Authentizität und Ursprüngen von Kulturerbe im Mittelpunkt, sondern damit verbundene historische Kontexte, Werte und Ressourcen, ebenso wie Machtkonstellationen und Hierarchien.

Diese Aspekte stehen auch im Fokus der Erforschung handwerklicher Berufspraxen, die in Immaterielles-Kulturerbe-Listen aufgenommen wurden. Die gegenwärtige Situation stellt sich dabei als problematisch dar: Allein im bayerischen Handwerk gab es 2022 fast 16.000 offene Lehrstellen, die nicht besetzt werden konnten. Angesichts dieses seit Jahren zunehmenden Mangels an Fachkräften und Auszubildenden sind qualitative Studien dringend nötig. Gerade kulturelle Faktoren sind hier von Relevanz – so werden die körperlich-handwerklichen Tätigkeiten mit bestimmten gesellschaftlichen Zuschreibungen verknüpft. Das Spektrum der Konnot­ation­en reicht von Qualität und Verlässlichkeit bis hin zu Anstrengung und Schmutz. Auch eine geringere Wertschätzung von Handwerk gegenüber geistigen Tätigkeiten ist teilweise festzustellen.

Geschichte und Gegenwart der Kirchenmalerei

Feldforschungen im Bereich der Kirchenmalerei zeigen, dass als kunsthandwerklich eingeordnete Berufe weniger von entsprechenden kulturellen Ab­wertungen betroffen sind. Kirchenmalerei bezeichnet ursprünglich eine spezielle Ausrichtung innerhalb des sich vor allem seit dem 10. Jahrhundert ausdifferenzierenden Malerberufs. Ihre Vertreter gehörten also zur Malerzunft – in dieser Zeit ein reiner Männerberuf. Im Laufe der Jahrhunderte lassen sich über 50 verschiedene Berufsbezeichnungen finden. Sie sind abhängig von den hauptsächlich bearbeiteten Objekten und den verwendeten Techniken und beschreiben also, worauf sich die jeweiligen Handwerker konzentrierten. Darunter waren beispielsweise Fassaden- oder Möbelmaler, Ziermaler, Schriftenmaler, Freskanten, Fassmaler, Kalkmaler oder Ätzmaler.

Im 17. und 18. Jahrhundert setzte dann eine Aufteilung in künstlerisch tätige Hofmaler und als sogenannte Dekorations- und Ornamentmaler bezeichnete Handwerker ein. Vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen entstanden eigene Berufsbezeichnungen und Ausbildungsrichtungen zur Kirchenmalerei – der Begriff setzte sich zunehmend durch. 1999 wurden in der Bundesrepublik noch 120 Kirchenmalerbetriebe gezählt, Tendenz fallend. Die 2016 erfolgte Aufnahme der Kirchenmalerei in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes entspricht damit auch dem Schutzgedanken einer Bewahrung überlieferter Techniken.

Interviews mit Auszubildenden und Mitarbeiter*innen fördern allerdings eine große Diskrepanz zwischen Inhalten in den Berufsschulen und alltäglicher Praxis in den Betrieben zutage. Die Auszeichnung des Kirchenmalerei-Handwerks als immaterielles Kulturerbe wurde von den meisten Befragten durchaus als gesellschaftliche Wertschätzung wahrgenommen und begrüßt. Gleichzeitig gaben sie aber auch an, die für die Aufnahme in die Liste zentralen Techniken des Gravierens, Radierens oder Punzierens kaum je anzuwenden beziehungsweise sie angesichts der Konzentration auf Restaurierungsarbeiten und damit ausbleibenden Aufträgen zur Neugestaltung von Objekten selbst mittlerweile wieder verlernt zu haben.

Perspektiven Auszubildender

Fragestellungen zum Umgang mit Tradition und Innovation nicht nur in Bezug auf Arbeitspraxen, sondern auch auf soziale Aspekte ergeben sich zudem aus einem vor kurzem begonnenen Forschungsprojekt zu Auszubildenden in Bamberger Gärtnereibetrieben. Während sich der Großteil der bestehenden Forschungsliteratur hier bislang auf historische und gegenwärtige Untersuchungen zu den Gärtnerfamilien selbst und ihre Rolle in der Stadt konzentriert, weisen die Perspektiven der Mitarbeitenden teils auf starre Hierarchien, körperliche Überlastung und damit zentrale Gründe für Ausbildungsabbrüche im Handwerk hin. Europäisch-ethnologische Einblicke vermögen damit Bedeutung und identitätsstiftende Funktionen von immateriellem Kulturerbe ebenso wie vorhandene Problematiken und Potenziale aufzuzeigen.

Materielles kommt nicht ohne immaterielles Kulturerbe aus. In vielen Fällen ergeben sich Schnittstellen, wie auch am Beispiel der Restaurierung der Deckenmalereien in St. Michael deutlich wird. Die Bamberger Forschungsschwerpunkte in den denkmal-, geschichts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Europäischen Ethnologie tragen dem Rechnung – die Wissenschaftler*innen gehen in vielen Projekten Hand in Hand.

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Seite 158965, aktualisiert 19.10.2023