Die Profis vom Paulskirchenparlament

175 Jahre Deutsche Revolution von 1848/49: Erkenntnisse über die Frankfurter Nationalversammlung

  • Forschung
  •  
  • 08.05.2023
  •  
  • Tanja Eisenach
  •  
  • Lesedauer: 6 Minuten

Die deutsche Demokratie reicht zurück bis ins Jahr 1848. Am 18. Mai tagte in Frankfurt das erste gesamtdeutsche Parlament zum ersten Mal. Lange war es als chaotisches Professorenparlament verschrien, die von ihm erarbeitete Verfassung trat nie in Kraft. Doch Forschungsergebnisse der Universität Bamberg zeigen: Die ersten deutschlandweit gewählten Abgeordneten arbeiteten höchst professionell.

Die Tabelle, auf die sich alles stützt, ist riesig: 809 Zeilen, 299 Spalten, 241.891 Zellen. Und jede Zelle musste gefüllt werden. Gut 400 Stunden saßen die studentischen Hilfskräfte von Dr. Ulrich Sieberer, Professor für empirische Politikwissenschaft an der Universität Bamberg, vor dem Computer, um jede einzelne dieser Zellen mit den Ergebnissen aller 299 namentlichen Abstimmungen in der Frankfurter Nationalversammlung zu füllen. Zu finden waren die Daten schon immer in den Protokollen des Parlaments, doch erst 170 Jahre später lassen sie sich umfassend analysieren – dank Sieberers Datensatz, den er zusammen mit seinem Kollegen Dr. Michael Herrmann von der Universität Konstanz erstellt und ausgewertet hat. Ein Ziel des Projekts war es herauszufinden, ob die Arbeitsweise der Frankfurter Nationalversammlung der Arbeitsweise heutiger Parlamente ähnelt. Ein außergewöhnliches Unterfangen, denn nur selten widmen sich Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler historischen Themen – und noch seltener tun sie dies mit modernen empirischen Methoden. Die Ergebnisse geben nicht nur einen Einblick in die grundlegenden Funktionsweisen der Demokratie, sondern werfen auch ein neues Licht auf das erste deutsche Parlament.

Schließlich begann mit der Revolution von 1848 in Deutschland ein demokratisches Experiment, das für seine Zeit ungewöhnlich war. Während das Parlament in England nur ein Fünftel der männlichen Bevölkerung repräsentierte, durften vier Fünftel bei der Wahl der Frankfurter Nationalversammlung ihre Stimme abgeben. In jedem Wahlkreis wurde ein Abgeordneter gewählt, Parteien gab es damals noch nicht. Die meisten Abgeordneten waren durchaus gebildet. So saßen neben führenden Staatsrechts-Professoren etwa auch der Begründer des Turnsports, Friedrich Ludwig Jahn, sowie der Sprachwissenschaftler und Märchensammler Jacob Grimm in der Frankfurter Nationalversammlung. Doch was fast allen Parlamentariern fehlte, waren Erfahrungen in der politischen Praxis.

Obwohl es keine Parteien gab, bildeten sich schnell Fraktionen

Dennoch unterschied sich ihre parlamentarische Arbeit kaum von der Arbeit heutiger Abgeordneter. „Innerhalb von sechs Wochen etablierten die Abgeordneten schon Fraktionen“, sagt Sieberer. „Dabei gab es damals noch gar keine politischen Parteien. Ihnen wurde einfach sehr schnell klar, dass man sich in einem Parlament zusammenschließen muss, wenn man etwas erreichen will.“

Insbesondere im Winter 1848 waren gleichgesinnte Abgeordnete auch auf die Hilfe ihrer Kollegen angewiesen, um in einzelnen Fragen zu entscheiden, wie sie abstimmen sollten. Die Zahl der Vorlagen war einfach zu hoch und die darin behandelten Fragen zu komplex, als dass ein einzelner Abgeordneter in der Lage gewesen wäre, sich zu jedem Thema eine eigene Meinung zu bilden. Die Nationalversammlung befasste sich nämlich nicht nur damit, wie die Verfassung gestaltet werden sollte, sondern auch mit den aktuellen Problemen der Zeit, wie der Zollfreiheit der Binnenschifffahrt, der Regelung der Jagdrechte oder dem Patentwesen. Dass sie sich in Fraktionen zusammenschlossen und so eine Arbeitsteilung organisierten, ist ein Zeichen für die Professionalität der Frankfurter Nationalversammlung.

Da das Parlament von so vielen Deutschen gewählt worden war, sah es sich auch dazu berechtigt, in die Tagespolitik einzugreifen. Dazu installierten die Parlamentarier eine provisorische Zentralregierung, die vom Vertrauen des Parlaments abhängig war. Dies zeigte sich etwa bei der Auseinandersetzung um den Waffenstillstand von Malmö zwischen Dänemark und den deutschen Truppen unter der Führung Preußens. Das Parlament lehnte das Abkommen mehrheitlich ab, woraufhin das erste Kabinett zurücktrat, das sich für den Waffenstillstand ausgesprochen hatte. „Das Parlament setzte so faktisch eine parlamentarische Regierungsweise durch“, sagt Sieberer. „Bis heute gehört es zum Wesen unserer Demokratie, dass die Regierung das Vertrauen des Parlamentes braucht.“

Klarer Beleg für Basic Space Theory

Weil es weder Parteien noch Berufspolitiker gab, konnten die Abgeordneten weitgehend frei von Karrieredenken Politik machen. „Daher ist gerade bei der Frankfurter Nationalversammlung die Antwort auf die Frage, ob die Abgeordneten ihre Stimme nach bestimmten Mustern abgaben, besonders interessant“, sagt Sieberer. „Das zeigt uns, nach welchen grundsätzlichen Regeln die parlamentarische Demokratie funktioniert.“

Um dies zu analysieren, nutzen Sieberer und Herrmann die Basic Space Theory. Diese Theorie des politischen Raumes geht davon aus, dass politische Konflikte in jeder Gesellschaft entlang weniger Konfliktlinien ausgetragen werden. Wenn man also weiß, wo ein Abgeordneter bei einer Sachfrage steht, kann man ziemlich gut abschätzen, wie er bei vergleichbaren Themen abstimmen wird.

In der Frankfurter Nationalversammlung haben Herrmann und Sieberer mit ihren statistischen Analysen zwei Konfliktlinien gefunden: Der eine Konflikt dreht sich um die Frage, wer künftig herrschen soll – ein Monarch oder das Volk. Der andere entzündet sich an dem Streitpunkt, ob für die Einigung Deutschlands die groß- oder die kleindeutsche Lösung verfolgt werden soll, ob Österreich also künftig zu Deutschland gehören soll oder nicht. Die beiden Politikwissenschaftler können mithilfe statistischer Berechnungen zielsicher vorhersagen, wie ein einzelner Abgeordneter in einer tagespolitischen Frage etwa zur Zollpolitik oder zum Jagdwesen abstimmen wird. Aus den Grundkonflikten der Nationalversammlung lassen sich also so etwas wie politische Programme ableiten. „Die Abgeordneten wussten ganz genau, wie sich ihre Weltanschauung in konkrete Politik übersetzen lässt“, sagt Sieberer. „Diese Transferleistung ist vor allem angesichts der fehlenden politischen Erfahrung wirklich erstaunlich.“

Was 1848 geschah, wirkt also bis heute fort. So sprachen sich die Abgeordneten am Ende für die kleindeutsche Lösung aus, schafften für den föderalen Bundesstaat eine zweite Kammer, die dem heutigen Bundesrat sehr ähnlich ist, und entwickelten Grundelemente eines parlamentarischen Regierungssystems, die bis heute Bestand haben. Auch wenn sich diese aufgrund der weiteren historischen Entwicklung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts erst in der Bundesrepublik dauerhaft durchsetzten.

Publikation:
Michael Herrmann und Ulrich Sieberer. 2018. The basic space of a revolutionary parliament: Scaling the Frankfurt Assembly of 1848/49, Party Politics, Online First, doi: 10.1177/1354068817749778.

Weitere Publikationen zum Thema:
Ulrich Sieberer und Michael Herrmann. 2019. Bonding in Pursuit of Policy Goals: How MPs Choose Political Parties in the Legislative State of Nature, Legislative Studies Quarterly, Early View, doi: 10.1111/lsq.12231.

Ulrich Sieberer und Michael Herrmann. 2019. Short-lived Parliamentarisation in 19th-century Germany: Parliamentary Government in the Frankfurt Assembly of 1848/1849, Parliamentary Affairs, Advance Access, doi: 10.1093/pa/gsz013.

Weitere Informationen unter: www.uni-bamberg.de/emppol/ forschung/laufende-forschungsprojekte

Weitere Bamberger Expertinnen und Experten zum Thema Deutsche Revolution 1848/49: Entstehung, Entwicklung, Auswirkungen  sind im Expertise-Service zu finden.

nach oben
Seite 157089, aktualisiert 08.05.2023