War Iphis Transgender?

Geschlecht und geschlechtliche Identität in Ovids Metamorphosen | aus uni.vers Forschung 2024

  • Forschung
  •  
  • 20.08.2024
  •  
  • Sarah Weichlein
  •  
  • Lesedauer: 6 Minuten

Im antiken Rom oder Griechenland gab es keine direkte Vorstellung von Geschlechtsfluidität und homosexuellen Beziehungen wie heute. Dennoch thematisiert Ovid in seinen Metamorphosen eine „Geschlechtsumwandlung“ und skizziert damit Geschlechtsstereotype und antike Konzepte von Sexualität. Der Vergleich mit heutigen Vorstellungen von Geschlecht und damit verbundenen Identitätsfragen hilft beim Verständnis von aktuellen Vorurteilen.

Die Erzählung von Iphis (nach Ovids Version im 9. Buch der Metamorphosen)

Auf Kreta erwarten Ligdus und Telethusa ein weiteres Kind. Aufgrund der wirtschaftlich schlechten Lage der Familie ordnet der Vater die Tötung an, sollte es sich um ein Mädchen halten. Die Mutter widersetzt sich dieser Forderung und gibt das Kind mithilfe der Göttin Isis als Jungen aus. Doch in jugendlichem Alter verlieben sich Iphis und das Mädchen Ianthe und werden sogar verlobt. Dies sorgt für einen Gewissenskonflikt und eine Identitätskrise bei Iphis, die weiß, dass eigentlich nur heterosexuelle Beziehungen gesellschaftlich akzeptiert sind. Um ihrer Liebe zu Ianthe dennoch nachgehen zu können, ist eine Verwandlung in einen „echten“ Jungen nötig. Hierfür beten sie und ihre Mutter erneut zur Göttin Isis, die die Verwandlung durchführt und eine Hochzeit der beiden dadurch ermöglicht.

Geschlechtsvorstellungen in der griechisch-römischen Antike waren – wenn man heutiges Begriffsvokabular verwendet – heteronormativ und binär. Es gab klare Zuschreibungen von Eigenschaften und gebilligten Verhaltensweisen für die Geschlechter Mann und Frau: Ersterer war aktiv, nicht nur beim Sexualakt, sondern politisch, militärisch, rechtlich und ökonomisch im öffentlichen Raum. Letztere hingegen hatte passiv zu sein und sich im privaten Raum dem Haushalt und der Kinderbetreuung zu widmen. Sexualkontakte außer in der Ehe zur Kinderzeugung waren tabu – zumindest für die römische Ehefrau der Oberschicht.

Was heute unter sexueller Orientierung verstanden wird, also zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, wird in der Antike gar nicht
verhandelt. Vielmehr steht die Aktivität beim Sexualakt, ausgedrückt durch Penetration, und die damit verbundene Machtposition innerhalb der Gesellschaft im Fokus. Das bekannte Konzept der (griechischen) Päderastie ist keine homosexuelle Liebe und kein ebenbürtiges Beziehungsverhältnis nach heutigen Vorstellungen, sondern hierarchisch geprägt durch den Altersunterschied der beiden männlichen Partner, dem älteren Liebhaber und dem jüngeren Geliebten. Homosexuelle Beziehungen gleichalter Männer aus derselben Gesellschaftsschicht waren hingegen verpönt und weibliche homoerotische Zuneigung nach dem penetrativen Sexualmodell undenkbar.

Ovids Metamorphosen als Reflexionsraum für antike soziale Normen

Im Folgenden soll exemplarisch anhand einer Textstelle aus Ovids Metamorphosen (Ov. met. 9,666-797) dargestellt werden, wie sich gesellschaftliche Konzepte zu geschlechtsrollentypischem Verhalten aus dem Diskurs der Entstehungszeit in einem Text wiederfinden lassen und dass hieraus ein Wechselprozess der Prägung von Gesellschaft durch Literatur und umgekehrt entsteht. Denn Ovid als Dichter des augusteischen Roms kennt die Konventionen seiner Zeit bezüglich Geschlechterrollen und verarbeitet sie literarisch. Allerdings spielt er stets mit sozialen Normen, sodass keine direkte Aufnahme mit moralischem Apell erfolgt, sondern ein Reflexionsraum geöffnet wird, was vor allem durch die Sphäre des Mythos möglich ist.

Das biologisch weibliche Kind kann nach der Geburt als Junge aufgezogen werden, weil der Vater ihm den Namen des Großvaters Iphis gibt, der (zufällig?) geschlechtsneutral ist. Zudem weist das Kind ein androgynes Äußeres auf, sodass die jungenhafte Kleidung nur verstärkend bei der Geschlechtstäuschung wirkt. Nach der Verlobung, und trotz ihrer Gefühle zu Ianthe, ist sich Iphis über die Problemhaftigkeit der Beziehung in ihrem konkreten Vollzug bewusst: Sie kann die Ehe ohne Penetration nicht nach gesellschaftlichen Konventionen vollziehen. Erst als die Göttin Isis Iphis äußerlich in einen Mann verwandelt, schafft dies die gesellschaftliche heteronormative Voraussetzung für die Beziehung von Iphis und Ianthe und die Geschichte kann glücklich mit deren Hochzeit enden.

War Iphis transgender oder lesbisch?

Aus Perspektive der Gender Studies sind folgende Aspekte des Mythos interessant: Phänomene wie Crossdressing, also das Tragen von Männerkleidung, und körperliche Veränderung der Erscheinung der Iphis sorgen dafür, dass sie männlich wirkt. Allerdings findet keine biologische Geschlechtsangleichung der Sexualorgane statt. Iphis wird von der Göttin Isis mit Worten zum Mann deklariert und nur die sekundären Geschlechtsmerkmale werden von außen verändert. So wird ihre Körpergröße vergrößert, sie wirkt kräftiger und bekommt verstärkten Haarwuchs. Crossdressing wurde lange als Zeichen für Transidentität oder Homosexualität gesehen. Eine transgender Person kann die Kleidung des anderen Geschlechts tragen, muss dies aber nicht. Wesentliches Merkmal ist, mit welchem Geschlecht sich die Person identifiziert und ob die Geschlechtsidentität sich von der äußeren Erscheinung oder dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht abweicht. Iphis’ Selbstverständnis kann daher nicht als transidentitär bezeichnet werden, da sie für sich selbst stets weibliche Pronomina und Adjektivendungen verwendet sowie internalisierte geschlechtsstereotype Verhaltensweisen zeigt.

Das bedeutet, dass sich Iphis als geborenes Mädchen weiblich identifiziert, wenngleich sie als Junge sozialisiert ist. Spannend ist, dass sie sexuelles Begehren und emotionale Zuneigung für ein Mädchen entwickelt. Dies bedeutet einen Bruch mit der heteronormativen Gesellschaftsordnung, die Iphis internalisiert hat, wie ein innerer Monolog verdeutlicht.

Ein weiterer gender-relevanter Aspekt ist die Objektifizierung von Frauen, beispielsweise durch die Aussage, dass Iphis sich „seiner Ianthe bemächtigt“ (Ov. met. 9,797). Frauen werden als Besitz des Mannes gedacht und sind keine handelnden Personen, besonders wenn es um penetrativen Geschlechtsverkehr geht, den frau passiv zu erdulden hat. Heutzutage würden derartige Beschreibungen als frauenfeindlich gelten, wie auch die Geschlech-terhierarchie bei der Kindstötung, die nur durch aktives Eingreifen und somit rollen-inkonformes Verhalten der Telethusa verhindert wird, die als Frau eigentlich dem Willen des Mannes verpflichtet wäre.

Hervorzuheben ist die Ambivalenz der Geschlechtsidentität und des Rollenverhaltens sowie die Möglichkeit weiblicher homosexueller Zuneigung im dargestellten Textauszug, auch wenn das Aufrechterhalten der heteronormativen Gesellschaftsordnung das Ende der Geschichte bildet.

Antike Texte erklären die Entstehung heutiger Vorurteile

Manche Geschlechtsstereotype und Rollenbilder aus der griechisch-römischen Antike haben sich durch Rezeption und Überlieferung bis ins 21. Jahrhundert erhalten: Allen voran die Hierarchie zwischen den Geschlechtern, also die Unterordnung der Frau unter den Mann, und die Binarität von Geschlecht mit ihrem biologischen Ursprung, aus der ein heteronormatives Ideal entspringt. Denn auch wenn heute einige Teile der Welt für Gleichstellung der Geschlechter und Toleranz gegenüber sexuellen Orientierungen und Identifizierungen eintreten, finden sich immer wieder misogyne, homo- und transphobe Äußerungen im gesellschaftlichen Diskurs.

Die Beschäftigung mit antiken Vorstellungen von Geschlecht und damit verbundenen Identitätsfragen hilft also beim Verständnis der historischen Genese heutiger Vorurteile. Durch den Abgleich des antiken und aktuellen Verständnisses werden Ursprung und Implikationen geschlechtlicher Zuschreibungen verständlich. Es entsteht ein Bewusstsein darüber, dass diese unser Denken und Verhalten beeinflussen. Diese Einsicht ist ein erster Schritt, um an eigenen Vorurteilen und gesellschaftlichen Konventionen etwas zu ändern. Natürlich ist hierfür eine kritisch-reflektierte Lektüre antiker Texte nötig, die Vorwissen über antike und aktuelle Geschlechtskonventionen braucht, um einer Verfestigung von Klischees und Vorurteilen entgegenzuwirken.

nach oben
Seite 166781, aktualisiert 20.08.2024