"Nach Kriegen sehen wir eine sozialpolitische Expansion"

Ein Gespräch über den Zusammenhang von Krieg und Sozialstaat | aus uni.kat 02/2024

Figuren
  • Forschung
  •  
  • 29.01.2025
  •  
  • Samira Rosenbaum
  •  
  • Lesedauer: 7 Minuten

Im Jahr 2023 gab es mehr Kriege, Krisen und Konflikte als je zuvor. Welche Auswirkungen hat das auf die Alterssicherung, das Gesundheitssystem oder Leistungen für Familien und Arbeitslose in den betroffenen Ländern? Prof. Dr. Carina Schmitt, Inhaberin des Lehrstuhls für International Vergleichende Politikfeldanalyse, forscht im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs zu den Zusammenhängen zwischen bewaffneten Konflikten und Sozialpolitik. Mit uni.kat sprach sie über ihr aktuelles Projekt Bewaffnete Konflikte und sozialpolitische Entwicklungsdynamiken. 

Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Zusammenhang von Krieg und Sozialpolitik zu beschäftigen?

Carina Schmitt: Im Grunde war es die Beobachtung, dass wir nach Kriegen in vielen Ländern eine sozialpolitische Expansion sehen. Staaten bauen mittelfristig oft die Rentensysteme aus, verbessern die Gesundheitsversorgung oder investieren in Bildung. Diese Feststellung hat meinen Kollegen Prof. Dr. Herbert Obinger von der Universität Bremen und mich stutzig gemacht: Krieg bringt so viel Leid und Zerstörung, hat gleichzeitig aber eine förderliche Wirkung auf Sozialpolitik. Welche Bedingungen und Umstände dafür verantwortlich sind, untersuchen wir in diesem gemeinsamen Projekt.

Was genau schauen Sie sich da an?

Dass Krieg und Sozialpolitik etwas miteinander zu tun haben, ist plausibel, wenn man genauer hinschaut. Krieg geht mit Zerstörung einher, die Bedürfnisse in einer Gesellschaft steigen. Wie geht man mit Verwundeten um? Mit Menschen, die ihre Existenzgrundlage verloren haben? Das sind Fragen, auf die ein Staat reagieren muss. In dem Projekt fragen wir, welche Auswirkungen genau beobachtet werden können. Zudem ist Krieg nicht gleich Krieg. Man muss zum Beispiel zwischenstaatliche Konflikte, bei denen zwei oder mehrere Länder gegeneinander Krieg führen, unterscheiden von innerstaatlichen Konflikten wie einem Bürgerkrieg. Dafür werden neben quantitativen Analysen fünf Länder anhand von Fallstudien analysiert.

Es gab und gibt so viele Kriege und Konflikte. Wie sind Sie bei der Auswahl der Länder vorgegangen?

Uns war vor allem wichtig, möglichst unterschiedliche Regionen zu berücksichtigen. In Deutschland blicken wir auf die Auswirkungen der beiden Weltkriege. Mit Bulgarien ist ein Land aus dem ehemaligen Ostblock aufgenommen, das in einem kommunistischen Regime verortet war. In Peru betrachten wir die Auswirkungen einer Militärdiktatur. Und mit Angola ist ein Land in Subsahara-Afrika vertreten, das dem portugiesischen Kolonialsystem unterworfen war. Durch die verschiedenen Regionen, Regime und sozioökonomischen Bedingungen haben die Staaten ganz unterschiedliche Möglichkeiten zu reagieren.

Wie gehen Sie bei den Fallstudien vor?

Sehr viel kann man über die Arbeit in Archiven erfahren. Politische Aushandlungsprozesse und Entscheidungen sind zumeist in Form von Protokollen dokumentiert. Wir arbeiten in einem internationalen Team, denn – ob Peru oder Bulgarien – Kenntnisse der jeweiligen Landessprache sind unverzichtbar! Anhand der Dokumente in den Archiven kann man dann nachvollziehen, wie sich klassische Bereiche der Sozialpolitik wie Leistungen für Familien, Rente, Gesundheit oder Arbeitslosigkeit verändert haben.

Jedes Land hat eine andere Geschichte, eine andere geografische Lage, eine eigene wirtschaftliche Situation und jeder Konflikt verläuft anders. Lassen sich trotzdem übergeordnete Muster und Effekte erkennen?

Absolut! Eine Fallstudie sagt zunächst viel über den konkreten Fall aus. Trotzdem kann man im Vergleich der verschiedenen Konflikte und mit Blick auf die bisherige Forschung Muster erkennen. In der Politikwissenschaft schauen wir über den Einzelfall hinaus und wollen verstehen: Was sagen uns die Ergebnisse über die Welt? Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Fallstudie zu Peru führt eine Doktorandin von mir durch, die kürzlich ihren ersten Feldaufenthalt dort gemacht hat. Zwischen der peruanischen Regierung und Guerillaorganisationen herrschte zwischen 1980 und 2000 ein innerstaatlicher Krieg. In den 20 Jahren des Konflikts wurden rund 70.000 Menschen getötet. Die Archivrecherchen zeigen, dass man insbesondere nach der Machtübernahme von Alberto Fujimori 1990 eine Bewegung in Richtung einer exklusiven, klientelistischen Sozialpolitik beobachten kann. Die Regierung investiert also durchaus in sozialpolitische Maßnahmen. Sie stärkt damit aber gezielt nur kleine Teile der Bevölkerung, die besonders wichtig sind. Diejenigen, die schon viel haben, bekommen noch mehr, damit sie gegenüber dem politischen System loyal bleiben. In Deutschland haben wir eine fast hundertprozentige Abdeckung der Bevölkerung bei Sozialversicherungen wie Renten- oder Krankenversicherungen. In vielen anderen Ländern wie Peru sind solche Systeme teilweise hoch exklusiv und nur sehr wenige Bürgerinnen und Bürger können von den Systemen profitieren. Der Inklusionsgrad variiert also global von null bis hundert Prozent. Der Trend zu exklusiverer Sozialpolitik ist ganz typisch während und nach innerstaatlichen Konflikten wie Bürgerkriegen und bleibt üblicherweise auch nach Ende des Bürgerkriegs lange bestehen.

Und was lässt sich für zwischenstaatliche Konflikte feststellen?

Das Gegenteil, nämlich einen Trend zu mehr Universalisierung. In fast allen Ländern sehen wir nach zwischenstaatlichen Konflikten eine Zunahme an Demokratie. Das führt zu einer universaleren Sozialpolitik, die mehr Bevölkerungsgruppen einbezieht. Das gilt zum Beispiel für die Länder, die an den Weltkriegen beteiligt waren und bei denen beispielsweise verstärkt in das Bildungs- und Gesundheitssystem investiert wurde. Interessant ist übrigens: Wenn nach einem Krieg Sozialleistungen für verschiedene Bevölkerungsgruppen ausgeweitet werden, werden diese in der Regel nicht mehr zurückgenommen. Zum Beispiel werden Renten erst für das Militär, Lehrkräfte und Beamte eingeführt, später dann für Industriearbeiter und so weiter. Wenn ein Staat einmal eine Leistung für eine Gruppe eingeführt hat, nimmt er das in der Regel nicht mehr zurück.

Da würde man es sich mit bestimmten Bevölkerungsgruppen ja auch gründlich verscherzen …

Eben! So entstehen die langanhaltenden Effekte. Die Institutionen und Leistungen, die geschaffen werden, haben zumeist eine sehr lange Lebensdauer, weit über den Konflikt hinaus.

Arbeiten Sie ausschließlich in historischer Perspektive?

Die beiden Weltkriege und ihre Auswirkungen auf die Industrienationen sind bereits recht gut erforscht. Hier blicken wir in der Geschichte zurück. Die Bürgerkriege, die wir uns jetzt anschauen, sind aber oft neuere Konflikte – beispielsweise Bürgerkriege in Ländern des Globalen Südens. Das jüngste Beispiel unserer Forschung ist der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Der Krieg in der Ukraine wurde also nachträglich in das Projekt aufgenommen?

Ja, genau. Er ist in zweierlei Hinsicht ein Sonderfall. Zum einen handelt es sich um einen laufenden Krieg, geografisch relativ nah an Deutschland. Zum anderen forschen wir zumeist anhand von Archivmaterial. Aus Protokollen lässt sich das politische Handeln ablesen – nicht aber, wie sich die Einstellung der Bevölkerung verändert hat. Das ist hier anders. Uns geht es jetzt um die Einstellung der Menschen in der Ukraine zur Sozialpolitik. Eine ganz andere Perspektive. Im März 2023 hat das Projektteam dort eine Umfrage durchgeführt, weitere sollen folgen. Dann vergleichen wir die Ergebnisse und schauen, wie der Krieg die Einstellungen der Menschen zur Sozialpolitik verändert. Das ist etwas, was wir für die historische Zeit nicht machen können.

Bleiben wir bei der Ukraine. Was können Sie beobachten?

Auf russischer und ukrainischer Seite wird stark mit Sozialpolitik argumentiert. Die Regierungen vermitteln: Jetzt geht es erst einmal darum durchzuhalten. Nach der harten Zeit des Krieges versprechen sie dann umfangreiche Entschädigungen wie Rentenzahlungen oder bessere Schulbildung. Außerdem sehen wir einen Mentalitätswandel: In ruhigen Zeiten interessiert sich eine Normalbevölkerung nur bedingt für Sozialpolitik. Vor allem die breite Mittelschicht fühlt sich gut abgesichert. Krisen und Kriege erhöhen die Wahrscheinlichkeit drastisch, von Armut betroffen zu sein oder krank oder verwundet zu werden. Dadurch steigt auch die Bereitschaft, dieses Risiko auf mehr Schultern zu verteilen. Nichts anderes ist letztlich Sozialpolitik: Das Risiko, zum Beispiel krank oder arbeitslos zu werden, trage ich nicht alleine, sondern die gesamte Gesellschaft. Durch Krisen steigt die Nachfrage nach sozialpolitischen Leistungen durch alle Bevölkerungsschichten. Das ist übrigens ein Befund, den wir auch in anderen Krisen und Konflikten sehen konnten. Die Beobachtung in der Ukraine ist also sehr typisch für den Zusammenhang von Krieg und Sozialpolitik.

Die Erfahrung des Kriegs macht also solidarischer?

Ja, genau das sehen wir! Die Solidarität mit der eigenen Gruppe nimmt zu. Die Bereitschaft, etwas an die Gesellschaft abzugeben und im Zweifelsfall von einer Absicherung profitieren zu können, wächst in Krisenzeiten. Die Präferenzen für Sozialpolitik steigen, der gesellschaftliche Zusammenhalt wird gestärkt. Die Abgrenzung nach außen nimmt hingegen zu. Nach dem Motto: ‚Wir müssen zusammenhalten, um uns gegen die da draußen zu wehren.’

Ist eigentlich auch ein Mangel an Sozialstaat ein Risikofaktor für die Entstehung von Konflikten?

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Ungleichheit in Staaten ist sicherlich auch relevant für die Entstehung von Konflikten, vor allem bei innerstaatlichen Konflikten wie Bürgerkriegen. Zu dieser Fragestellung gibt es bislang noch kaum Forschung, obwohl das eine sehr spannende Frage ist.

Sie hatten zu Beginn unseres Gesprächs gesagt, dass die Politikwissenschaft fragt, was uns die Forschungsergebnisse über die Welt sagen. Diese Frage möchte ich noch einmal an Sie zurückgeben: Was sagen uns die bisherigen Erkenntnisse über die Welt?

Sozialpolitik ist in den allerseltensten Fällen wirklich aus sozialen Gründen genutzt oder eingeführt worden. Eigentlich haben immer andere Gründe eine Rolle gespielt: militärische, wirtschaftliche, strategische Gründe, Fragen der Systemstabilität. Soziale Gründe oder das Streben nach Gerechtigkeit spielt da kaum eine Rolle. Sozialpolitik wird letztlich im Wesentlichen als Instrument der Machtsicherung und der strategischen Befriedung oder Begünstigung von Gruppen eingesetzt. Und obwohl das der Fall ist, profitieren bestimmte Gruppen von den sozialpolitischen Maßnahmen – was natürlich positiv ist.

Sozialpolitik ist also letztlich nur ein strategisches Instrument?

Das ist in der Tat so. Das fängt schon damit an, in welchen Situationen Staaten sozialpolitische Systeme eingeführt haben. Das waren bei der ersten Einführung häufig autoritäre Systeme, die sozialpolitische Maßnahmen für sich genutzt haben – beispielsweise ehemalige Kolonialstaaten, die das Kolonialsystem erhalten wollten.
Was man auch lernt: Sozialpolitik als Klientelpolitik für sehr kleine Bevölkerungsgruppen führt oft zu mehr Ungleichheit und zu mehr Armut. In vielen Ländern bewirkt das eine Umverteilung von arm nach reich. Sozialpolitik kann also auch zu mehr Ungleichheit führen, wenn Regierungen privilegierten Gruppen noch mehr Vorteile verschaffen.

Die Frage ist also weniger, ob es ein Rentensystem oder eine Absicherung für Arbeitslosigkeit gibt, sondern mehr, wie es ausgestaltet ist?

Genau! Wenn man sich unsere Welt anschaut, ist es um die Sozialpolitik eher mittelprächtig bestellt. Die großen Organisationen wie die Weltbank, die Internationale Arbeitsorganisation oder die Vereinten Nationen fordern die Staaten auf, Sozialpolitik auszubauen, und haben Förderprogramme dafür aufgelegt. Die Hoffnung ist, dass dadurch Armut und Ungleichheit reduziert werden. Aber oft wird dieses Ziel nicht erreicht und manchmal passiert sogar das Gegenteil. Meiner Meinung nach sollten internationale Organisationen nicht standardmäßig nur ein Mehr an Sozialpolitik fordern. Man sollte genau darauf achten, wie die Maßnahmen aussehen und welche Maßnahmen für welches Land passend sind, damit am Ende das Ziel von weniger Ungleichheit erreicht wird.

Wie geht es jetzt weiter?

Künftig wollen wir genau an dieser Fragestellung ansetzen und untersuchen, wie diese verschiedenen Maßnahmen nach Konflikten Ungleichheit und Armut in einem Staat beeinflussen. Wie wirkt sich ein Renten- oder Gesundheitssystem konkret auf Armut aus? Das haben wir bislang noch nicht systematisch untersucht, da keine detaillierten Informationen zu sozialpolitischen Systemen vorlagen.

 

Informationen zum Projekt

Projekt: Bewaffnete Konflikte und sozialpolitische Entwicklungsdynamiken

Leitung: Prof. Dr. Herbert Obinger, Universität Bremen, Prof. Dr. Carina Schmitt, Universität Bamberg

Laufzeit: 01/2022 – 12/2025

Volumen: 488.140 EUR 

Förderer: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 1342 Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik

Die Auswirkungen von Kriegen auf die Entwicklung der Sozialpolitik in westlichen Industrieländern wurden in den letzten Jahren besser erforscht. Für andere Regionen der Welt ist der Zusammenhang zwischen bewaffneten Konflikten und der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates jedoch kaum untersucht worden. Zudem hat die bisherige Forschung nicht systematisch zwischen den Auswirkungen verschiedener Konfliktformen unterschieden. In diesem Projekt werden daher die Auswirkungen verschiedener Konflikttypen, wie zwischenstaatliche Kriege, Bürgerkriege und der Kalte Krieg, auf die Großzügigkeit und den Umfang der Sozialpolitik in einer globalen Perspektive untersucht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Alterssicherung, dem Gesundheitssystem sowie auf Familien-, Arbeitslosen- und Kriegsopferleistungen. Im Zentrum stehen Konflikte und ihre Folgen in den Ländern Angola, Bulgarien, Deutschland, Peru, Serbien/Jugoslawien und Ukraine.
 

nach oben
Seite 169067, aktualisiert 29.01.2025