„Das vorzeitige Versterben ist die ultimative Folge sozialer Ungleichheit“

Der neue Soziologieprofessor Marvin Reuter beschäftigt sich mit Gesundheit und Arbeit.

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  • 23.05.2023
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  • Hannah Fischer
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  • Lesedauer: 7 Minuten

Prof. Dr. Marvin Reuter ist seit März 2023 Juniorprofessor für Soziologie, insbesondere Arbeit und Gesundheit, an der Universität Bamberg. Sein Weg führte ihn von Düsseldorf in die Welterbestadt. Dass der 37-Jährige in seiner Forschung einen Fokus auf Gesundheit legt, war nicht geplant, sondern kam durch einen Zufall während seines Studiums. Welcher Zufall das genau war, welche Zusammenhänge es zwischen Gesundheit und Arbeit gibt und warum die Soziologie essenziell zur Gesundheitsforschung beitragen kann, verrät er im Interview.

Sie sind jetzt Professor für Soziologie, insbesondere Arbeit und Gesundheit, an der Universität Bamberg. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Gesundheit zu beschäftigen?

Marvin Reuter: Ursprünglich habe ich in Düsseldorf Soziologie und Germanistik im Bachelor studiert und später im Master Sozialwissenschaften. Gesundheit ist kein typisch soziologisches Thema. Dass ich mich heute in meiner Forschung damit beschäftige, kam durch einen Zufall: Während meines Studiums habe ich als studentische Hilfskraft an der Universitätsklinik in Düsseldorf an einer Geburtskohortenstudie mitgearbeitet, die sich mit dem Verlauf von Allergien bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt hat. Für das Projekt habe ich hauptsächlich statistische Analysen durchgeführt. Anhand des Datensatzes konnte ich herausfinden, dass das Einkommen der Eltern mit der Allergiewahrscheinlichkeit ihrer Kinder korreliert. Das fand ich spannend und habe mich weiter eingelesen. Dabei ist mir aufgefallen, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen oder geringerer Bildung statistisch gesehen früher sterben und häufiger an Krankheiten wie Schlaganfall oder Herzinfarkt leiden. Das vorzeitige Versterben ist sozusagen die ultimative Folge sozialer Ungleichheit. In meiner Masterarbeit habe ich dieses Thema aufgearbeitet.

Wie ging es nach dem Masterabschluss weiter?

Anschließend habe ich im Bereich Public Health – also einem interdisziplinären Feld – am Institut für Medizinische Soziologie der Uniklinik Düsseldorf promoviert und danach ein Jahr als Postdoc dort gearbeitet. Die Ausschreibung für die Juniorprofessur in Bamberg hat gepasst wie die Faust aufs Auge, weil nicht nur das Thema Gesundheit Teil der Ausschreibung war, sondern auch das Themenfeld Arbeit. In meiner Promotion habe ich mich nämlich mit prekärer Beschäftigung und ihrer Auswirkung auf Gesundheit beschäftigt. In Bamberg wird ja schon sehr viel zu Gesundheit geforscht. Ich finde es wahnsinnig toll, dass dieser Wandel stattfindet und sich die Soziologie mehr mit dem Themenkomplex beschäftigt.

Hatten Sie vorher schon einen Bezug zu Bamberg?

Als Universitätsstandort kannte ich Bamberg schon, weil ich in einem DFG-Projekt zum Verlauf von Gesundheit und Wohlbefinden während des Übergangs von der Schule in den Beruf bereits mit Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) gearbeitet hatte. In dem Zuge habe ich mitbekommen, dass das Leibniz Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) in Bamberg ansässig ist. Ich war aber vorher noch nie hier.

Können Sie noch etwas mehr über Ihre Forschungsschwerpunkte berichten?

Das große Oberthema ist Medizinsoziologie. Das heißt, ich schaue mir den Einfluss von sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen auf Gesundheit und Krankheit an. Innerhalb dessen fokussiere ich mich besonders auf Arbeit und Beruf und deren Auswirkungen auf Gesundheit. Ein Forschungsschwerpunkt ist dabei prekäre Beschäftigung: Ich frage mich, inwieweit Beschäftigungsverhältnisse, die für Arbeitnehmer*innen besonders unsicher und risikoreich sind, einen Einfluss auf deren Gesundheit haben. In meiner Dissertation habe ich mich vor allem mit den Arbeitsbedingungen beschäftigt. Ich konnte unter anderem herausfinden, dass Menschen, die einen befristeten Arbeitsvertrag haben, häufiger dazu neigen, krank arbeiten zu gehen.  Diese Menschen berichten zudem häufiger davon, dass sie sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren. Dabei wird ein umso stärkerer Zusammenhang sichtbar, je kürzer der Vertrag befristet ist. Ich plane, diese Forschung in Bamberg fortzuführen und mich genauer mit psychosozialen und physischen Arbeitsbelastungen von prekär Beschäftigten auseinanderzusetzen. Dabei möchte ich vor allem auch atypische Beschäftigungsformen beleuchten, also beispielsweise geringfügige Beschäftigung oder Minijobs.

Welche Fragestellung haben Sie in dem DFG-Projekt bearbeitet, für das Sie die NEPS-Daten genutzt haben?

In dem Projekt habe ich mich damit befasst, was passiert, wenn junge Menschen die Schule verlassen. Klar, die einen machen eine Ausbildung, die anderen gehen an die Universität und wieder andere werden arbeitslos. Aber wie wirkt sich dieser Übergang von Schule in das Berufsleben langfristig auf die psychische und physische Gesundheit aus? Das Ergebnis: Es zeigt sich kein Unterschied, zwischen denen, die studieren gehen und denen, die eine Ausbildung machen. Wichtig ist, dass die Menschen sozusagen einen regulären Pfad einschlagen. Diejenigen, die direkt nach der Schule arbeitslos wurden – also den erfolgreichen Übergang nicht geschafft haben – hatten schon vorher häufiger psychische und physische Gesundheitsprobleme. Zudem verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand über die Zeit schneller. Das zeigt, dass diese Phase sehr wichtig ist für die Langzeitentwicklung von Gesundheit. Ein positiver Befund war übrigens, dass berufsvorbereitende Maßnahmen die negativen Effekte von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit erfolgreich abfedern konnten.

Gibt es einen weiteren Forschungsschwerpunkt?

Ja, in meinem dritten Schwerpunkt geht es um berufliche Infektionsrisiken. Ich habe mich damit im Kontext der Corona-Pandemie beschäftigt. Es wurde ja schon früh vermutet, das bestimmte Berufe ein höheres Risiko bergen, sich mit Coronavirus anzustecken. Dazu gab es aber in Deutschland keine Analysen. Im Rahmen der NAKO Gesundheitsstudie, der größten epidemiologischen Kohortenstudie in Deutschland, haben wir uns das genauer angeschaut: Wir konnten bestätigen, dass Menschen in Gesundheits- und systemrelevanten Berufen, die nicht einfach im Home Office arbeiten können, viel häufiger von Infektionen betroffen sind. Überraschend war, dass es bei Krankheiten normalerweise einen sogenannten sozialen Gradienten gibt. Leute mit einer geringeren Bildung, geringerem Einkommen und geringerem Berufsprestige haben eine höhere Wahrscheinlichkeit Krankheiten zu bekommen. Bei Covid war es am Anfang umgekehrt: Vor allem Menschen mit einem hohen Bildungsniveau infizierten sich häufiger mit dem Coronavirus. Das haben wir damit erklärt, dass sie mobiler sind als beispielsweise einfache Fabrikarbeiter und deshalb etwa häufiger im Flugzeug sitzen. Der Umstand hat sich umgekehrt als die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie strenger wurden. Die ärmeren, weniger gebildeten Menschen waren dann mehr von Infektionen betroffen. Als die Maßnahmen wieder gelockert wurden, konnten wir wiederum eine Entwicklung in die gegenteilige Richtung feststellen. Das zeigt: Selbst Infektionskrankheiten folgen einem sozialen Muster.

Das sind alles Themen, die gesellschaftlich sehr relevant sind. Was ist Ihnen in der Lehre wichtig, wenn Sie den Studierenden diese Zusammenhänge vermitteln?

Mir ist wichtig, dass die Studierenden Gesundheit als soziales Thema begreifen. Als Soziolog*innen können sie zur Gesundheitsforschung enorm beitragen, auch wenn sie keine Mediziner*innen sind. Während meines Studiums hatte ich noch das Gefühl, dass man sich rechtfertigen muss, dass man sich mit dem Thema „Gesundheit“ beschäftigt. Wenn man sich aber die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen anschaut, ist eigentlich offensichtlich, dass es interdisziplinäre Ansätze braucht. Ein gutes Beispiel ist der demografische Wandel und die damit verbundene Schrumpfung und Alterung des Erwerbspersonenpotentials. Diese Entwicklung schafft neue Herausforderungen und verschärft bereits bestehende Probleme wie den Fachkräftemangel, die Zunahme der allgemeinen Krankheitslast, der steigende Kostendruck auf das Sozialsystem und die Bedrohung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Ein politisches Ziel hierbei ist Verlängerung des Erwerbslebens sowie die Gestaltung nachhaltiger und gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen. Soziolog*innen können durch ihre theoretische und empirische gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung wertvolle Perspektiven fernab rein biomedizinischer Sichtweisen einbringen. Ohne Kenntnis der sozialen Bedeutung von Merkmalen wie „Alter“, „Geschlecht“, „Migrationshintergrund“ oder „Berufsstatus“ lassen sich Zusammenhänge mit Gesundheit und Erwerbsfähigkeit bestenfalls beschreiben, aber selten sinnvoll erklären und verstehen. Zudem haben Soziolog*innen die Relevanz sozialer Faktoren wie beispielsweise die Rolle von Arbeitsstress oder sozialer Unterstützung für die Gesundheit überhaupt erst sichtbar gemacht. Ich möchte Studierende mit diesen Themen gerne vertraut machen und ihnen somit auch gesundheitswissenschaftliche Berufsfelder eröffnen.

Vielen Dank für das Interview!

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Seite 158171, aktualisiert 26.05.2023