VWL-Professorin ist nach Bamberg geflohen

Ukrainerin Olena Martyniuk erforscht an der Universität die Integration von Geflüchteten

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  • 10.02.2023
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  • Patricia Achter
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  • Lesedauer: 6 Minuten

Raketen in Kiew vertrieben die VWL-Professorin Olena Martyniuk aus ihrer Heimat. Mit ihrer Tochter floh sie in die Westukraine, dann nach Deutschland, Bamberg. An der Otto-Friedrich-Universität fand sie Unterstützung beim Deutschlernen, im Beruf und im Alltag. Wie sich ihre Flucht auf ihr Leben auswirkt – und was sie sich wünscht.

„Die meisten Geschichten über den Ausbruch des Krieges beginnen wohl so wie meine: Ich wachte von den Explosionen auf, schaltete den Computer an und erfuhr, dass es sich um Raketeneinschläge handelte“, beschreibt Olena Martyniuk den Kriegsbeginn in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, in der sie geboren und aufgewachsen ist. Am Tag zuvor hatte die VWL-Professorin an der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kiew noch den Antrag für ein neues Forschungsprojekt ausgefüllt. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung zum Beispiel damit, wie die Europäische Union und die Ukraine gemeinsam Klima- und Umweltprobleme bewältigen können. Der Antrag wurde bewilligt und ihre Kolleg*innen in der Ukraine arbeiten nun an dem Projekt.

Die 52-Jährige selbst beteiligt sich nicht daran. Denn sie ist kurz nach der Antragstellung aus der Ukraine geflohen. Mit ihrer Tochter, die Medizin studiert, kam sie am 4. März 2022 nach Deutschland. „Mein Bruder arbeitet schon seit vielen Jahren in Deutschland, er ist IT-Spezialist“, begründet Olena Martyniuk ihre Entscheidung für dieses Land: „Ich beschloss, näher bei meiner Familie zu sein.“ Eine Woche später folgten auch ihre Eltern.

Flucht voller Herausforderungen und Unterstützung

Der Weg nach Deutschland dauerte mehrere Tage. Sie erzählt, dass der Krieg in der Ukraine seit 2014 eine alltägliche Sache war: sichtbar in der Freiwilligenarbeit für die Armee, in Militärkrankenhäusern, einer Militärsteuer. „Der Krieg war neben uns, aber plötzlich ist er direkt in unser Haus gekommen“, sagt die Ukrainerin. Daher verließen sie ihr Zuhause. Am zweiten Tag nach Kriegsausbruch in Kiew kamen sie als Flüchtlinge in der Westukraine an – ebenso wie zahlreiche andere Menschen. Mitten in der Nacht fanden sie in einer Ferienwohnung im kleinen Ferienort Solotvyno einen Unterschlupf. „Am nächsten Morgen war ich sehr gerührt, weil sich die Einheimischen um uns kümmerten und uns mit warmem Essen versorgten“, erinnert sich Olena Martyniuk.

Auf dem Weg nach Deutschland erfuhr sie, dass ein Angestellter ihres Cousins ein Haus in der Nähe von Bamberg besitzt. Dort kamen sie fürs erste unter. Und dann fing sie an, nach Kolleginnen und Kollegen an der Universität Bamberg zu suchen. Ihre Anfrage leitete das Welcome Center an die Fakultät Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weiter. „Ich habe gemeinsame Forschungsinteressen entdeckt und wollte gerne helfen“, berichtet Prof. Dr. Guido Heineck vom Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Empirische Mikroökonomik. Beide erforschen Themen wie lebenslanges Lernen, veränderte Karrierestrategien oder auch Qualifikationen von Arbeitskräften.

Forschung zur Integration ukrainischer Geflüchteter

Guido Heineck entwickelte mit Olena Martyniuk ein gemeinsames Forschungsvorhaben, das er bei der Volkswagenstiftung einreichte. Diese fördert geflohene ukrainische Wissenschaftler*innen mit einem Gastforschungsprogramm. Ihr Vorhaben wurde bewilligt, sodass die beiden seit August 2022 ein Jahr lang die Integration ukrainischer Geflüchteter untersuchen können, wobei ihr Schwerpunkt auf Kindern und Jugendlichen liegt.

Außerdem bat ein Forschungsteam des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), mit dem die Universität Bamberg kooperiert, Olena Martyniuk um Unterstützung. Zum Team gehörte unter anderem die Bamberger Volkswirtin Prof. Dr. Silke Anger. Gemeinsam veröffentlichten sie einen Artikel über das Bildungssystem in der Ukraine. „Ich war einfach froh, dass ich mich nützlich machen und meiner gewohnten Arbeit nachgehen konnte“, schildert die Ukrainerin. „Vor allem habe ich mich gefreut, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland kennenzulernen und mit ihnen zusammenzuarbeiten.“ Das Team schrieb einen Bericht über die Perspektiven von ukrainischen Geflüchteten auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Das Fazit der Forschenden: Der formale Bildungsstand der Bevölkerung in der Ukraine ist relativ hoch, aber mit Bildungsabschlüssen in Deutschland schwer vergleichbar. Denn in der Ukraine werden berufspraktische Qualifikationen häufig nicht dual, sondern in Schulen oder Hochschulen erworben. Zum Beispiel macht man zuerst einen Abschluss an einem pädagogischen Institut und dann einen zweimonatigen Kurs, um als Buchhalterin oder Buchhalter zu arbeiten. „Trotz der Einführung der dualen Ausbildung in der Ukraine im Jahr 2015 dürfte daher das duale Ausbildungssystem vielen Geflüchteten kaum bekannt sein“, schreiben die Autor*innen. „Insofern gilt es, Jugendliche und deren Eltern über das berufliche Ausbildungssystem in Deutschland zu informieren – nicht zuletzt mit Blick auf die damit verbundenen Aufstiegs- und Weiterqualifizierungschancen.“

Neuer Alltag – jetzt und künftig

Für die Vernetzung mit Fachkolleginnen und -kollegen ist Olena Martyniuk besonders Alexandra Wolf aus dem Welcome Center dankbar. Hilfreich sind für die Wissenschaftlerin und ihre Tochter auch die Deutsch-Intensivkurse, die das universitäre Sprachenzentrum seit dem Sommersemester 2022 anbietet. Die Interviewfragen des uni.blogs beantwortete die Ukrainerin im Oktober lieber noch auf Englisch, doch sie versteht Deutsch immer besser und übt regelmäßig im Alltag. „Für uns ist es sehr wichtig, diese Möglichkeit zu haben, um uns schneller und besser in das Bildungssystem hier in Deutschland zu integrieren“, erläutert sie. „Schließlich vergeht die Zeit, und die Situation in der Ukraine ist nach wie vor sehr schwierig und tragisch.“

Was sich Olena Martyniuk für die nahe Zukunft wünscht? Sie antwortet: „Eine sehr schwierige Frage.“ Sie vermisse ihr Zuhause, ihre Freund*innen und Kolleg*innen sehr. „Aber das frühere Leben gibt es nicht mehr, nur die Erinnerung daran. Manchmal, wenn es hier für mich herausfordernd ist, möchte ich am liebsten nach Hause gehen. Aber dann begreife ich, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war.“ Nun zählt sie auf die Unterstützung ihrer Bamberger Kolleg*innen wie Guido Heineck und auf neue deutsche Bekannte, zum Beispiel aus ihrer Nachbarschaft. Sie fügt hinzu: „Und ich hoffe, dass meine Tochter ihr Medizinstudium an einer deutschen Universität fortsetzen kann.“

Lesetipp:

Franziska Schreyer, Silke Anger, Tim-Felix Grabert, Olena Martyniuk (2022): Berufliche Bildung in der Ukraine – ein Überblick. Online unter: www.iab-forum.de/berufliche-bildung-in-der-ukraine-ein-ueberblick

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Seite 156349, aktualisiert 17.02.2023