„Osteuropa ist nah und fern zugleich.“

Der neue Professor für slavische Literaturwissenschaft Christian Zehnder stellt sich vor.

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  • 25.01.2024
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  • Hannah Fischer
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  • Lesedauer: 4 Minuten

Mit seinem Magisterstudium in München hat Prof. Dr. Christian Zehnder zum ersten Mal einen Anker nach Bayern ausgeworfen. Jetzt hat es ihn nach Franken verschlagen. Seit Herbst 2023 hat er den Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft inne und ist damit Nachfolger von Prof. Dr. Elisabeth von Erdmann. Im Interview verrät er unter anderem, was ihm an Bamberg besonders gefällt, warum die Welterbestadt ein guter Standort für ihn als Slavisten ist und welche Pläne er in der Forschung verfolgt.

Sie sind jetzt Professor für slavische Literaturwissenschaft an der Universität Bamberg. Welche Stationen Ihres Werdegangs haben Sie in die Welterbestadt geführt?

Christian Zehnder: Nachdem ich meinen Bachelor in der Schweiz gemacht habe, war ich für den Magister in Slavistik und Philosophie in München. Danach ging es für die Promotion und einen Teil der Postdoc-Phase zwar zurück in die Schweiz nach Fribourg und jeweils ein Jahr nach Warschau und Chicago. Mit meiner Station in München hatte ich aber auf jeden Fall schon einen Anker nach Bayern ausgeworfen. Zuletzt habe ich zeitgleich als Privatdozent in Fribourg, als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bern und als Lehrbeauftragter in Genf und Poznań gearbeitet. 

Jetzt sind Sie in Bamberg angekommen. Wie war Ihr erster Eindruck?

Klar war mir Bamberg als altes Erzbistum bereits ein Begriff, aber ich war vorher noch nie in Bamberg gewesen. Mir ist sofort aufgefallen, wie malerisch und dennoch belebt die Stadt ist. In Bamberg ist die Universität über die ganze Stadt verteilt. Dadurch ist sie überall präsent und prägt die Stadt. Besonders gefällt mir die Nähe Bambergs zum Territorium, mit dem sich die Slavistik beschäftigt. Wir sind nah an Tschechien und auch an Polen – also sozusagen ein Tor zu (Mittel-)Osteuropa. Geographisch so nah war ich dem Areal unseres wissenschaftlichen Gegenstands in meiner akademischen Karriere noch nie. Zudem gibt es hier in Deutschland selbst viele Sprecherinnen und Sprecher unter anderem der polnischen, russischen, ukrainischen, bosnisch-kroatisch-montenegrinisch-serbischen Sprache. Aus dieser Nähe will ich schöpfen – für Forschung und Lehre. 

Sie sprechen die Forschung schon an. Wo liegen dabei Ihre Schwerpunkte?

Innerhalb der Slavistik liegt meine Spezialisierung in russischer und polnischer Literatur und den entsprechenden Sprachen. Die Literatur und Poesie der Region schaue ich mir in meiner Forschung vor allem im Kontext von Ideengeschichte, Religionsgeschichte und politischen Aspekten an. Zwischen Polen und Russland liegen zwei große Länder – die Ukraine und Belarus – mit ihren Literaturen und Kulturen. Gerade im Lichte der aktuellen Ereignisse ist mir noch bewusster geworden, dass eine Spezialisierung wie meine etwas Abstraktes hat. Vor allem in der Lehre will ich deshalb versuchen, eine noch breitere Sicht auf die ganze Region zu entwickeln, und dies dann auch in der Forschung fruchtbar zu machen. Durch meine Vorgängerin Elisabeth von Erdmann hat in Bamberg zudem die Südslavistik eine Tradition. Ich werde mich bemühen, im Rahmen meiner Möglichkeiten auch diese aufzugreifen.

Können Sie von einem Forschungsprojekt berichten?

In den vergangenen Jahren habe ich mich mit einem Thema befasst, das momentan gesellschaftlich sehr aktuell ist: Aktivismus. Ich habe mir das Phänomen in einer historisch ganz präzisen Form angeschaut – nämlich in Bezug auf den „romantischen Aktivismus“ des 19. Jahrhunderts in Polen. Untersuchungsgegenstand waren die Unabhängigkeitsbestrebungen und ihre Nachwirkungen in der polnischen Kultur, Literatur, besonders in der Poesie. Die leitende Frage war, inwiefern Literatur und Poesie selbst aktivistisch sein können oder inwiefern sie überschritten werden müssen hin zu realen politischen Tätigkeiten, um wirksam zu werden. Der Wind des Aktivismus der Gegenwart hat in dieses Projekt hineingeweht. 

Haben Sie auch schon Forschungspläne für die nächsten Jahre in Bamberg?

In den kommenden Jahren würde ich mich gerne mit dem Thema „Verzicht“ in osteuropäischen Kulturen und Literaturen beschäftigen. Verzicht gewissermaßen als Kehrseite des Aktivismus. Ich habe mich bereits mit Reduktion in der Kunst, Minimalismus und Lakonismus in der Poesie – teils im Zusammenhang mit religiöser Askese – befasst. Jetzt möchte ich das Thema erweitern und Verzicht in neuen Kontexten bis hin zu zeitgenössischen Formen betrachten, die vor allem mit der Problematik der Ressourcenknappheit zu tun haben und sich in Bezug auf Lebensstile äußern. Inwiefern spiegeln sie sich in der Gegenwartsliteratur wider? 

Sehen Sie bei Ihren künftigen Vorhaben auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fächern?

Auf jeden Fall! Ich würde mir erträumen, das Thema Verzicht weiter auszubauen, da es gerade in Hinblick auf Ressourcenrückgang viele Fächer betrifft. Zunächst möchte ich es aber Osteuropa-spezifisch lancieren. Zukünftig möchte ich mich auch in dem in Aufbau befindlichen Zentrum Plurale Moderne sowie in der Forschungsinitiative Jüdischkeit einbringen.

Was ist Ihnen in der Lehre wichtig?

Mein Ziel ist es, ein Feuer der Begeisterung für Literatur und Poesie bei den Studierenden zu wecken. Das Feuer möchte ich im besten Fall in nachvollziehbarer Weise verbinden mit Forschungsfragen. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein: etwa geschichtlich oder auch in Bezug auf eine tiefere Auseinandersetzung mit künstlerischer Form. 

Was fasziniert Sie selbst an der Slavistik und warum sollte man das Fach heute studieren?

Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa sind sowohl nah als auch fern. Die Kulturen wirken oftmals exotisch, sind aber gleichzeitig mitten in Europa. Nicht nur geographisch, sondern auch was die geschichtlichen Linien und künstlerischen Traditionen angeht, ist der slavische Raum mitten in Europa. Zudem sind Ost- und Ostmitteleuropa extrem reich an unterschiedlichsten Kulturen. Das ist eine große Bereicherung, wenngleich diese kulturelle und geschichtliche Vielfalt heute vor allem als Problem in unserem Bewusstsein und in den Medien ist. Wenn alles innerhalb dieser Pluralität harmonisch wäre, gäbe es ja keinen Krieg. Die Differenzen, die heute sichtbar werden, sind eine große Herausforderung. Umso mehr müssen wir Spezialistinnen und Spezialisten ausbilden, um weiterhin einen Zugang zu der Region zu haben – und sie möglichst immer besser zu verstehen.

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Seite 163333, aktualisiert 25.01.2024